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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Autoren: Margot S. Baumann
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Seengen stieg der Mann aus und schenkte ihr zum Abschied ein Lächeln. Sie verzog den Mund. Schlecht sah er ja nicht aus. Seine Aufmachung war zwar nachlässig, doch mit der richtigen Style-Beratung hätte man aus ihm eine ansprechende Erscheinung machen können.

    Max sah dem Postauto hinterher und schulterte seine Tasche. Er fand es schade, dass ihm die rotgelockte junge Frau mit ihrer Reaktion so deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie kein Interesse an einem Kennenlernen hatte. Wirklich schade, denn sie gefiel ihm. Vielleicht etwas zu dünn und zu ernst für seinen Geschmack, aber schon im Intercity hatte er bedauert, dass sie ihm wie gerade eben keine Möglichkeit gelassen hatte, sich ihr vorzustellen. Nun ja, sie war sicher eine Touristin, die er sowieso nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Von daher konnte es ihm eigentlich egal sein. Und schließlich war da ja auch noch Brigitte.
    Vom Kirchturm schlug es halb elf. Der kurze Ausflug nach Zürich zu einem früheren Studienkollegen hatte länger gedauert, als er gedacht hatte, und vermutlich platzte sein Wartezimmer bereits aus allen Nähten. Von einem »Arztbesuch nach Vereinbarung« hielten die Dörfler absolut nichts. Sie kamen einfach vorbei, wenn ihnen etwas fehlte. Max schüttelte schmunzelnd den Kopf und machte sich dann auf den Weg zu seiner Praxis.

    Als Anouk beim Schloss Brestenberg ausstieg, schlug ihr die Junihitze wie eine Faust ins Gesicht. Sie beeilte sich, in den Schatten der ausladenden Eichen am Straßenrand zu kommen, und stellte ihr Gepäck ab. Um das Gebäude herum war ein Gerüst angebracht worden. Das Gemäuer war bis nach dem Zweiten Weltkrieg eine Kaltwasser-Heilanstalt gewesen, was auch immer das bedeuten mochte, und hatte danach lange Zeit leer gestanden. Offenbar war man jetzt im Begriff, das Anwesen in ein Hotel umzuwandeln.
    Sie überquerte die Straße und sah auf den Hallwilersee hinab, der nur zweihundert Meter entfernt lag. Das blaue Gewässer hockte wie eine brütende Henne zwischen zwei Hügelzügen. Im Süden sah man den kleineren Baldeggersee und dahinter, im morgendlichen Dunst, die schneebedeckten Alpen. Ein paar Segelboote dümpelten auf der spiegelglatten Wasseroberfläche. Anouk leckte sich über die Lippen. Sie war plötzlich schrecklich durstig.
    Ein kleines Mädchen stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und starrte zu ihr herüber. Das Kind trug nur ein weißes Hängerchen, das wie ein Nachthemd aussah, und war barfuß. Rote Locken umgaben sein rundliches Gesicht wie Schlangen das Haupt der Medusa. Anouk schaute sich nach der Mutter des Mädchens um. Obwohl nicht viel Verkehr herrschte, war es doch unverantwortlich, ein Kind in diesem Alter ohne Aufsicht zu lassen. Doch außer ihnen beiden war weit und breit kein Mensch auszumachen. Ob sie die Kleine nach Hause bringen sollte? Das Kind war höchstens drei Jahre alt und sicher nicht weit gelaufen.
    Dröhnendes Hupen ließ Anouk zusammenzucken. Mit einem Schrei sprang sie zurück auf den Gehsteig. Knapp einen Meter vor ihr raste ein Laster vorbei. Hinter der Autoscheibe sah sie einen Mann mit verzerrtem Gesicht, der wild mit der Hand herumfuchtelte. Sie schluckte. Das war knapp gewesen! Im dieselgeschwängerten Luftzug fröstelte sie plötzlich. Sie rieb sich die Arme und blickte zu dem kleinen Mädchen hinüber. Doch der Platz, an dem das Kind mit den roten Locken noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte, war leer. Hatte sie jetzt etwa schon Halluzinationen? Sie schüttelte den Kopf und griff nach ihrem Gepäck.
    »Na, dann wollen wir mal!«, sagte sie und drehte sich um. Hoffentlich hatte die alte Dame in der Zwischenzeit nicht wieder etwas Verrücktes angestellt.
    Landsitz derer von Diesbach, Mai 1743
    »Ihr könnt mich nicht dazu zwingen!«
    Bernhardines Augen funkelten. Wütend presste sie die Lippen aufeinander und warf den Kopf in den Nacken. Dabei verrutschte ihre Perücke, und eine rote Haarlocke stahl sich unter ihr hervor, die sie sich ärgerlich aus der Stirn pustete.
    »Mädchen«, brummte ihr Vater, und eine Falte bildete sich über seinen buschigen Augenbrauen, »benimm dich! Es gibt nichts mehr zu diskutieren. Die Sache ist per Handschlag besiegelt.«
    »Per Handschlag?« Bernhardines Stimme überschlug sich. »Bin ich denn ein Ackergaul, den man am Markttag an den Meistbietenden verhökert?« Sie ballte die Hände zu Fäusten.
    Franz Ludwig von Diesbach, Freiherr zu Liebistorf, stieß den Stuhl zurück, stand auf und hieb mit der
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