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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Autoren: Margot S. Baumann
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und warmem Blut. Julias Blut.
    »Nächster Halt Lenzburg. Umsteigemöglichkeiten nach …«
    Anouk spuckte den Kaugummi in den Abfallbehälter, griff nach ihrem Gepäck und ging den Mittelgang entlang. Der Zug bremste abrupt; sie taumelte, verlor das Gleichgewicht und landete direkt auf dem Schoß eines Reisenden.
    »Hoppla!«, sagte der Fremde erschrocken.
    »’tschuldigung«, murmelte sie errötend, hob den Kopf und blickte in ein Paar haselnussbraune Augen. »Ich fahre selten Zug, aber seit dem Unfall …« Sie brach ab.
    »Kein Problem.«
    Der Mann lächelte. Anouk nickte und stolperte dann schnell Richtung Zugtür davon. War sie denn noch zu retten? Jetzt hätte sie beinahe einem Wildfremden von dem Crash erzählt. Sie brauchte wirklich Urlaub.
    Der Lenzburger Bahnhof war modernisiert worden. Anouk blickte sich suchend nach der Haltestelle des Überlandbusses um. Sie war müde, überlegte kurz, ein Taxi zu nehmen, entschied sich aber dagegen. Ein Bus hatte viel mehr schützendes Metall um sich als ein Personenwagen.
    Sie erinnerte sich daran, wie sie und ihre Schwester Aimée als Kinder Großtante Valerie in den Sommerferien besucht hatten. Die Dame war schon damals recht schrullig gewesen. Doch seitdem bei der Fünfundsiebzigjährigen Altersdemenz festgestellt worden war, ging es mit ihr stetig bergab, hatte der Hausarzt Anouks Eltern mitgeteilt. Körperlich sei sie noch recht fit, aber im Kopf purzele alles durcheinander. Sie hätte oft Phasen, in denen sie nicht mehr wüsste, wo und in welcher Zeit sie sich gerade befände.
    Aus diesem Grund hatten Anouks Eltern, als Valeries nächste Verwandte, beschlossen, die alte Frau in ein Heim einweisen zu lassen. Dort wurde jedoch erst in sechs Monaten ein Zimmer frei. Und deshalb war Anouk dazu überredet worden, den Sommer in Seengen bei ihrer Großtante zu verbringen.
    Anouk schnaubte und warf ihre Haare in den Nacken. Wie hatte sie sich bloß dazu breitschlagen lassen können? Vermutlich waren das noch die Nachwirkungen des Schocks gewesen. Aber als ihre Mutter mit dem Vorschlag angekommen war, hatte sie es als äußerst verlockend empfunden, aus Zürich wegzugehen. Die lauten Partys, die versnobten Vernissagen und die extrovertierte Modelszene mit ihrer Vorliebe für Drogen und Alkohol gingen ihr auf die Nerven. Und das Loft, das sie sich mit Julia geteilt hatte, konnte sie im Moment nicht betreten, ohne in Weinkrämpfe auszubrechen. Ein wenig Abstand würde ihr guttun, auch wenn Krankenpflege nicht unbedingt zu ihren liebsten Freizeitbeschäftigungen gehörte. Anouk seufzte. Vielleicht würde ja unverhofft doch noch ein Zimmer vor Ablauf des halben Jahres frei werden, und ihre Großtante könnte schon eher ins Heim ziehen. Dort lebten schließlich alte Leute – und alte Leute starben. Bis dahin hätte sie auch sicher wieder Aufträge. Womöglich keine Nahaufnahmen, die Narbe würde auch kein noch so geschicktes Make-up vollständig abdecken können, aber ein paar Laufstegjobs lagen durchaus im Bereich des Möglichen. Sie war schließlich erst vierundzwanzig; heutzutage kein Alter für ein Model. Seengen lag außerdem nicht am Ende der Welt. Mit dem Auto waren es bloß dreißig Minuten bis nach Zürich. Und irgendwann würde sie auch wieder einen Wagen steuern können. Hoffentlich.
    Anouk ließ sich mit einem Stöhnen in den Polstersitz des Busses fallen. Es war kurz nach zehn Uhr – Montagmorgen – und das Fahrzeug nur spärlich besetzt: zwei ältere Hausfrauen mit Einkaufstaschen, ein pickliger Jüngling und ein schlanker Mann mit einem schlechten Haarschnitt.
    Anouk betrachtete den Nacken des Fremden, der zwei Reihen vor ihr saß, und überlegte, ob sie sich zu einem Kurzhaarschnitt durchringen sollte. Der Gedanke kam ihr jeden Sommer, aber letztendlich hatte sie es noch nie übers Herz gebracht, ihre Locken abzuschneiden. Die Agenturen buchten Anouk, wenn sie ein Model mit katzenhafter Ausstrahlung suchten. Mit ihren grünen Augen und dem roten Haar war sie dafür wie geschaffen, doch im Moment wäre sie eher für ein Shooting in einem Krematorium geeignet. Sie hatte fünf Kilo Untergewicht und musste unbedingt etwas auf die Rippen bekommen.
    Der braunhaarige Nacken drehte sich um und winkte. Anouk schob ihre Sonnenbrille auf die Nasenspitze und linste darüber hinweg. Toll, der Sturzhelfer aus dem Zug! Sie nickte ihrem Retter flüchtig zu und schaute dann demonstrativ aus dem Fenster. Sie hatte keine Lust, sich zu unterhalten.
    Bei der Poststelle in
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