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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Autoren: Charles Chadwick
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eklige Sandwiches sein?«
    Und bald war es so schlimm wie eh und je. Der Zug hatte Verspätung, und die Mädchen weinten, Julie, weil sie eine Blase hatte, und Hester, weil sie ihren neuen Armreif verloren hatte. »Um Himmels willen«, sagte Vater, »hört auf zu flennen, ihr grässlichen Dinger.« Dann stand er am Bahnsteigrand, spähte die Gleise entlang und schaute dauernd auf die Uhr oder in den Himmel, der sich zunehmend bewölkte und bereits erste Tropfen schickte. Mutter und die Mädchen saßen eng beieinander auf einer Bank, und sie flüsterte ihnen sehr eindringlich etwas zu. Ich dachte, vielleicht hatte der Naturwissenschaftslehrer erwähnt, dass es ein langsam wirkendes Gift sei, und bestimmt würde er heute Nacht schreiend und sich krümmend sterben. Als der Zug kam, stellte ich mich deshalb hinter ihn und überlegte, ihm einen Schubs zu geben, aber Hester rannte an mir vorbei, zog ihn vom Rand weg und rief: »Tut mir leid, Daddy, es war doch nur ein blöder Armreif. Danke für den wunderschönen Tag. Darf ich im Zug neben dir sitzen? Mummy hat gemeint …«
    Er hob sie in die Höhe und küsste sie auf die Lippen und sagte: »Du bist ja doch meine Schöne. Natürlich darfst du, wenn wir uns gegen die Konkurrenz wehren können.« Aber er hatte einen funkelnden, verschlagenen Ausdruck im Gesicht, eine Grimasse des Abscheus, des Schmerzes.
    Auf der Fahrt nach Hause wurde nicht gesprochen. Mutter und die Mädchen schauten durch die Regenrinnsale am Fenster hinaus, und Vater döste.
    Als wir ankamen, sprang er auf und sagte: »Gott sei Dank ist das vorbei! Und jetzt zu einem ernsthafteren Vergnügen.« Er schüttelte den Flachmann, um zu zeigen, dass er leer war.
    Beim Abendessen starrte er auf seinen Teller hinunter und schaute hin und wieder über den Tisch zu uns. Er aß fast nichts, und Mutter versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen – über die Schule tags darauf, die Sachen, die wir nicht vergessen durften. Als sie die Mädchen früh zu Bett schickte, kam von Julie wieder Jammern. Hester wollte ihm einen Kuss geben, aber er wandte den Kopf ab. Inzwischen war er benommen, die Stimme klang verwaschen.
    Als Julie ihn bat, sie ins Bett zu bringen und gut einzupacken und ihnen eine Geschichte vorzulesen, schüttelte er den Kopf und schaute auf seine Shepherd’s Pie hinunter und sagte zu Mutter: »Dir ist schon bewusst, oder, dass das völlig ungenießbar ist. Und was kalten Spinat angeht …«
    Dann verließ er das Zimmer, und wir hörten die Haustür krachen.
    »Eurem Vater ist es letzte Nacht nicht gutgegangen«, sagte Mutter am nächsten Morgen. »Ich werde ihm jetzt eine schöne Tasse Tee machen.«
    Wir gingen zur Schule, und als sie die Tür hinter uns schloss, hörten wir ihn mit seiner Paul-Robeson-Stimme »Onward Christian Soldiers« singen. Die Spötterei hatte bereits wieder begonnen, aber das wussten wir nicht und sangen das Kirchenlied mit, als wir die Straße hinuntergingen. Der Morgen war immer die beste Tageszeit, auch wenn er zu Hause war, denn Mutter schaute uns mit so viel Liebe in den Augen an, lächelte dann einfach in sich hinein, sah mit einem Schauder der Überraschung zur Helle des Himmels hoch und umfasste sich mit den Armen.
    Am folgenden Abend sagte sie ganz beiläufig, während sie unser Welsh Rarebit auf den Tisch stellte: »Euer Vater hat uns verlassen.« Sie zeigte uns seinen Brief.
    »Geliebte Brut. Ich kann nicht ernsthaft glauben, dass ich euch, von ein paar Minuten abgesehen, glücklich machen kann. Tut mir furchtbar leid, Leute. Es wäre besser für euch, wenn ich den Löffel abgegeben hätte, und so ist es am zweitbesten. Aber täuscht euch nicht, ich tue es um meinetwillen. Bleibt gesund, kümmert euch um eure Mutter und versucht, mir zu vergeben.«
    Er hatte es so schnell hingekritzelt, dass ich es kaum lesen konnte. Der Brief lag auf dem Tisch, und niemand schien zu bemerken, dass ich ihn nahm und in meine Schultasche steckte. Ich weiß nicht mehr, wann ich ihn vernichtet habe, davor muss ich ihn aber hunderte Male gelesen haben. Ich fragte mich, warum ich mich nicht glücklicher fühlte, und ich kann mich nicht erinnern, wie Hester und Julie reagierten. In meiner Erinnerung gab es nur Schweigen und dann Mutters Gesicht, als sie sagte: »Also los, ihr zwei. Zeit fürs Bett.« An ihrer Sorge um uns gab es keinen Zweifel, und auch nicht an dem Glück, das sie für einen kurzen Augenblick überstrahlte. Doch es wurde sehr schnell verdrängt von tiefstem Kummer, denn
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