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Die Fratze: Horror-Geschichte

Die Fratze: Horror-Geschichte

Titel: Die Fratze: Horror-Geschichte
Autoren: Christian Sidjani
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kotzen. Alles in mir rebellierte, weiter zu suchen, zu fragen, aber sie brauchten mir gar nicht zu antworten. Einige Schaulustige standen auf der Veranda und blickten in den Garten hinaus. Dort brannte das Flutlicht und tauchte die Umgebung in gespenstische Helligkeit. Zwei Männer in weißen Kitteln hatten sich über ein Laken gebeugt, das von einem Körper ausgebeult wurde. Auf meinem Weg nach draußen kamen mir zwei Sanitäter entgegen, die in stillem Einvernehmen die Köpfe schüttelten.
    Ich war so gut wie nackt, aber ich spürte die Kälte nicht. Ich erinnere nur, wieder und wieder den Namen meiner Schwester gerufen zu haben, bis ich das Laken erreicht hatte.
    „Sie dürfen hier nicht...“, sagte einer der Männer in Weiß und ich stieß ihn zu Seite.
    Den Anblick unter dem Laken, ihren Anblick, den werde ich nie vergessen. Bevor sie mich von ihr weg zerrten, sah ich nur ihr Gesicht. Das, was von ihm übrig war. Es reichte, um mir vorstellen zu können, wie der Rest ihres Körpers ausgesehen haben mochte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, der Schock, den sie in ihrem letzten Moment gespürt hatte, für immer in ihr Gesicht gebrannt. Die Nase hatte man ihr abgeschnitten. Noch immer lief etwas Blut über das Fleisch und die Knorpel. Am schlimmsten war ihr Mund. Zuerst erkannte ich nicht, was aus ihm heraus ragte, hielt es für blutige Würste mit Knochen. Dann wurde mir klar, man hatte ihr die Finger abgeschnitten und zum Fressen gegeben.
    Ich übergab mich, als wir wieder im Wohnzimmer waren. Die Beamten und Schaulustigen um mich.
    „ Das sollten Sie nicht sehen“, sagte einer.
    Aber doch, wie Unrecht er hatte, genau das hatte ich sehen müssen. Was hast du angerichtet, Jakob? Du hast sie im Stich gelassen, du unwürdige Kopie eines Bruders.
    Ich wollte die Szenen, die sich danach abspielten, vergessen. Und so sehr du mich auch zwingen würdest, es sind nur noch Bruchstücke davon vorhanden. Wie ich zusammenbrach und Madlen mich in ihre verschwitzten Arme bettete. Wie der Leichensack mit meiner Schwester als Inhalt unter den Augen aller hinaus gebracht wurde. Wie der Polizist mit der tieferen Stimme Sarah seine Visitenkarte gab und darum bat, ich sollte anrufen, sobald ich dazu fähig war. Wie ich einen Whiskey trank, noch immer nahezu unbekleidet, und dann von Madlen zu Bett gebracht wurde. Wie ich nicht schlafen konnte und mich am nächsten Tag erschrak, dass ich es doch getan hatte.
    Die folgenden Tage waren die schlimmsten meines bisherigen Lebens. Nicht nur, dass ich unseren Eltern unter die Augen treten musste, die mich schweigend anklagten. Für sie war ich dafür verantwortlich, was mit Larissa passierte. Sie wussten alles, vom Streit mit Martin, von meinem Dreier. Ich ahnte früh, dass sie mir nie verzeihen würden. Es war noch schlimmer, weil Journalisten begannen, mich aufzusuchen und zeitweise vor der Haustür auf mich warteten. Es war schlimmer, weil all unsere Freunde sich meldeten, um mich zu fragen, wie es mir ging. Und es war am schlimmsten, weil ich mich nicht mehr fähig sah, zur Arbeit zu gehen. Ich wurde das Bild ihres toten, entstellten Gesichtes nicht mehr los. Bis heute nicht.
    Kein Horrorfilm kann transportieren, was ich empfand und jetzt empfinde, wenn ich mich erinnere. Du bist naiv, wenn du glaubst, du kannst dich darauf vorbereiten. Du kannst es nicht. Niemand kann das. Und doch blieben Horrorfilme das Einzige, was mich meiner Schwester wieder näher brachte. So füllte ich die ersten Tage und Wochen damit, mir einzubilden, sie saß neben mir, während Halloween oder Hellraiser , American Werwolf oder Black Christmas im Laserdisc-Player spielte. Die Tür zu ihrem Zimmer verschloss ich und ich brauchte Monate, ehe ich es wieder betreten konnte.
    Die Beerdigung war entgegen meiner Befürchtungen nicht so schlimm wie alles andere, von dem ich berichtet habe. Auch die Befragungen durch die Polizei ließ ich tapfer über mich ergehen. Ab einem gewissen Zeitpunkt blieb ich in meinem Kopf zu Hause, wenn ich eigentlich unterwegs war. Und in meiner Vorstellung gelang mir wenigstens für eine kurze Zeit die Lüge, Larissa würde auf mich warten.
    Ich verbrachte Monate in Isolation und vermied zumeist, ans Telefon zu gehen oder die Tür zu öffnen. In mir wuchs der Wunsch nach Rache, auch wenn ich wusste, dass ich sie nie bekommen würde. Der Killer mit der Maske war einfach entkommen, bevor die Leiche von Larissa entdeckt werden konnte. Und der Polizei mangelte es an ausreichend
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