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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin
Autoren: Anne Chaplet
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gestern abend mit gesenkter Stimme zu ihr hinübergerufen. Sie beugte sich vor. Soweit sie das von hier aus sehen konnte, stand der Zeiger des Barometers auf fünf nach zwölf, das sprach nicht gerade für ein Tief.
    Jetzt schritt Monsieur heran, winkte abwesend und klopfte mit dem Fingerknöchel auf das Glas des Barometers. Der Zeiger rückte noch ein bißchen vor. Der hagere Mann schüttelte den Kopf mit dem dünnen weißen Haar, murmelte etwas, das sie nicht verstand, und ging wieder zurück ins Haus. Manchmal fragte sie sich, wie er sich dort zurechtfand. Nie war einer der grau gestrichenen Fensterläden geöffnet.
    Auf Monsieurs Veranda stand eine Topfpflanze mit gefiederten Blättern, auf einer Wäscheleine hingen zwei Paar Strümpfe, ein weißes Unterhemd und eine verwaschene blaue Arbeitshose. Sie hörte ihn husten dort drinnen, dann rückte ein Stuhl, es klang, als blättere er in einer Zeitung. In einer halben Stunde würde er aufstehen und sich bereit machen für den Gang hoch ins Dorf, wo er jeden Morgen einen Milchkaffee trank und ein Croissant aß, draußen vor dem Café des Monsieur André schräg gegenüber der Kirche, und sich die neuesten Nachrichten zutragen ließ.
    Man lebte eng zusammen hier. Trotzdem begegnete sie manchmal tagelang niemandem außer dem alten Herrn. Von Balkon zu Balkon tauschten sie die gewohnten Sätze über die üblichen Probleme: das Wetter, die Pflanzen, seinen Garten, den Hund und die Katze. Ihr war das recht so, im Unterschied zu anderen machte er keine Anspielungen und stellte auch keine unangenehmen Fragen. Wie die, die sie wochenlang beim Bäcker, beim Zeitungholen, im Supermarkt, von Bekannten und Unbekannten und oft noch vor der Begrüßung gehört hatte – »wohnt Ihr netter Freund nicht mehr bei Ihnen?«
    Sieht ganz so aus, dachte sie. Seit einem schwülen Mittwochmorgen im Juli nicht mehr – es war noch gar nicht lange her, aber es fühlte sich an wie lebenslänglich.
    Sie spürte, wie der vertraute Schmerz aufflatterte, und scheuchte ihn zurück. Als ob sie das Alleinsein nicht gewohnt wäre. Und außerdem hatte es so kommen müssen: Sie hatte es geahnt, schon beim ersten Gespräch, das sie beide damals mit der Maklerin führten.
    »Ich möchte kein Scheidungshaus«, hörte sie sich sagen. Madame Dervalle hatte genickt und gelächelt und so getan, als ob sie verstünde. Scheißfreundlich und falsch bis auf die Knochen, dachte Alexa. Sie hatte die Frau vom ersten Moment an nicht gemocht. Dabei sah Madame gut aus und sprach sogar ein bißchen Englisch – »a liiittle«, hatte sie geflötet, den Kopf kokett zur Seite geneigt.
    »Scheidungshäuser« waren wie Wanderpokale.
    Immer wieder hingen ihre Fotos in den Schaufenstern der Agenturen. Immer wieder ließ sich ein Paar zum Kauf überreden – angezogen von Verheißungen wie »unverbaubarer Blick« oder »herrliche Landschaft« oder »Haus mit Charakter«. Alexa wußte mittlerweile, was sich hinter diesen Zaubersprüchen verbarg. »Unverbaubar« war der Blick, den man von einem verlassenen Gehöft hoch oben in den Cevennen hatte. Dafür fror man sich schon im eisigen Herbstwind die Nase aus dem Gesicht. »Herrliche Landschaft« bedeutete etwas Ähnliches – ungestörte Bergeinsamkeit ohne Wasseranschluß mit mindestens einer Stunde Fahrtzeit zum nächsten Bäcker. Und »Haus mit Charakter« hieß entweder, daß es nur noch von Efeu und wildem Wein zusammengehalten wurde, oder daß es sich im Besitz von fünf streitlustigen Erben befand, die sich über den Verkaufspreis nicht einigen konnten.
    Irgendwann gaben die meisten Paare auf. Entweder, weil das Traumhaus sich als Geldvernichtungsmaschine entpuppte, oder, was meistens damit einherging, weil man sich in langen Monaten auf einer zugigen Baustelle heillos zerstritten hatte.
    »Kein Scheidungshaus.« Sie hatte die Worte wiederholt und versucht, seinen Blick zu erwischen dabei.
    Madame Dervalle lächelte und lächelte. »Ein einmaliges Angebot« – sie legte Alexa schwungvoll drei Farbfotos vor. »Sie sind die ersten, denen ich das Objekt anbieten kann. Ein Traumhaus in Toplage. Ein ausgesprochen günstiger Preis.«
    Alexa runzelte die Stirn. Ein Traumhaus für wenig Geld gab es nicht.
    »Die Vorbesitzer – die armen Bauers aus Deutschland – leider – aber so ist das nun mal…«
    »Was war mit den Bauers?« Als ob sie es nicht geahnt hätte.
    Madame Dervalle zuckte die Schultern und lächelte. Und er – er schien damit beschäftigt, die Falten aus dem
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