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Die Flüchtlinge

Die Flüchtlinge

Titel: Die Flüchtlinge
Autoren: Marta Randall
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gesagt, ihre Hosen seien geplatzt. Ihre Haltung löste sich auf. Sie nickte, versuchte verzweifelt die Fassung zu bewahren, sah ihm in die Augen, drehte sich um, stolperte und verlor mit heftig rudernden Armen das Gleichgewicht. Er packte ihre Schultern und hielt sie fest.
    „Sie müssen ebenso müde sein wie ich“, sagte er gutmütig. Quilla sah ihn – immer noch mit dem Gleichgewicht ringend – mit offenem Mund an und griff nach seiner Flöte. Sie verlor vollkommen die Fassung. Sie warf die Flöte nach dem Fremden und ergriff die Flucht. Noch bevor das Instrument den Boden berührte, fing der Mann es auf und schaute ihr mit hocherhobenem Kopf nach. Als Quilla das Tor hinter sich gebracht hatte, warf sie einen kurzen Blick zurück, stieß ein leises Stöhnen aus und verschwand in der Nacht.
    Der Mann schüttelte amüsiert den Kopf und hob die letzte der geleerten Schalen auf. Er brachte sie zum Kessel, legte sie auf die anderen und dachte an Quillas Augen. Sie trägt die Seele mitten im Gesicht, dachte er. Ihre Augen sind braun, verstört und weich. Er steckte die Flöte in den Gürtel und machte sich auf, um eine Decke und einen Platz zum Schlafen zu finden. Als er in die Nähe des Tors kam, sah er, wie Mish Kennerin und ihr Mann in der Finsternis untertauchten. Eine sexuelle Spannung hatte sich ihrer bemächtigt. Auch ihre Augen waren braun und weich, aber nicht im geringsten verstört. Gedankenverloren fand er schließlich im Heu einen Platz. Daß er keine Decke hatte, störte ihn nicht, aber bevor er sich auf die Seite legte, um einzuschlafen, reckte er sich ausgiebig. Trotz seiner Müdigkeit konnte er nicht einschlafen. Er drehte und wendete sich. Schließlich setzte er sich hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Stallwand. In seiner Umgebung gingen nach und nach die Lichter aus, und als das Stallinnere nur noch natürliche Helligkeit widergab, zog er in dem herrschenden Halbdunkel die Flöte aus dem Gürtel und spielte ein leises Lied, dessen Melodie in der Stille bald eigene Formen annahm. Die Geräusche der Schlafenden fingen allmählich an, den Klang seines Instruments zu übertönen. Zum erstenmal verspürte Tabor ein beinahe unerträgliches Heimweh. Vor seinem inneren Auge erhoben sich die mächtigen Berge der Großen Barriere. Sie waren schwarz, majestätisch, und er liebte sie. Er sah die seichten, grünen Flüsse von Kilnvale, die hohen, weißen Straßen von Mestican mit ihren plätschernden Springbrunnen und bunten Läden und die Schreie der Vögel, die er nie mehr wiedersehen würde, obgleich sie nach wie vor in den Astgabeln der Bäume nisteten. Tabor blies seine Flöte, und ihre Musik malte die Schönheit seiner Heimatwelt. Haß, Verfolgung, Konzentrationslager und Tod waren vergessen; nur die Lieblichkeit blieb übrig.
    Im Heu neben ihm erklang ein leises Rascheln. Als der letzte Ton seiner Musik erstarb, legte er die Flöte beiseite und erkannte einen Jungen, der in seiner Nähe saß und das Instrument fasziniert musterte. Selbst das herrschende Zwielicht reichte nicht aus, um das Gesicht des Jungen unkenntlich zu machen, und Tabor wunderte sich erneut darüber, wie stark die Kennerins einander glichen.
    „Möchtest du sie dir ansehen?“ sagte er leise und hielt dem Jungen die Flöte entgegen. Das Kind nickte und nahm sie mit äußerster Sorgfalt in die Hand.
    „Es ist eine Flöte, nicht wahr?“
    Tabor nickte.
    „Ich habe noch nie eine gesehen. Muß man hier hineinblasen?“
    „Ja. Wenn du Lust dazu hast, kann ich es dir beibringen.“
    „Wirklich?“ sagte der Junge begeistert. Dann lachte er. „Ich bin Jes Kennerin.“
    „Ich bin Tabor Grif.“ Tabor streckte die Hand aus. Der Junge starrte sie verständnislos an. „Gebt ihr euch auf Aerie nicht die Hand?“
    „Es gibt ja niemanden, dem man die Hand schütteln könnte.“ Jes streckte zögernd seine Rechte aus, und Tabor zeigte ihm, wie das Schütteln von Händen vor sich geht.
    „Das ist schon alles. Wenn du willst, können wir morgen mit dem Flötenunterricht anfangen.“
    „Warum nicht schon jetzt?“
    „Weil ein Anfänger meist schrecklichen Lärm erzeugt und die Leute jetzt schlafen!“
    „Oh, ich verstehe“, sagte Jes eifrig. Er gab Tabor das Instrument zurück, grub sich mit ein paar raschen Griffen ein Nest und legte sich hinein. „Gute Nacht.“
    „Wissen deine Eltern, daß du hier schläfst?“ erkundigte sich Tabor.
    „Oh, ich schlafe immer da, wo ich will. Ich übernachte sehr oft im Stall. Man gewöhnt
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