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Die Flüchtlinge

Die Flüchtlinge

Titel: Die Flüchtlinge
Autoren: Marta Randall
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Körper, Gehirne. Damit konnte man fertig werden.
    Nach zwölf Jahren des Alleinseins auf Aerie, in denen Mish außer Jason, Laur, den drei Kindern und den friedlichen, an Beuteltiere erinnernden einheimischen Kasiren niemanden zu Gesicht bekommen hatte, waren ihre Erinnerungen an andere Menschen verblaßt. Die Menschenmassen ihrer Kindheit hatten schließlich alle Kennerin-Gesichter angenommen. Obwohl sie gegen diese Vorstellung angekämpft und sie als falsch und gefährlich erkannt hatte, war es ihr nicht gelungen, die Bilder zu zerschlagen. Die Flüchtlinge würden keine gleichmäßig gebräunten, mit mongolischen Augen versehenen, dünnen Menschen sein. Sie würden … was? Sie würden Fremde sein, Emigranten. Und das waren sie auch, viermal soviel, wie sie erwartet hatte. Sie waren untersetzt, fett und dünn, dunkel- und hellhaarig mit allen Zwischentönen und hatten Gesichter aller Größen und Formen – und Augen, die Farben aufwiesen, von denen sie vergessen hatte, daß sie überhaupt existierten. Zwölf Jahre lang war Jason der einzige hochgewachsene Mann im ganzen Universum gewesen: Jetzt wurde sie von allen Seiten von den Fremden überragt, auch wenn sie müde, schmutzig, zerbrochen und hohlwangig waren. Trotzdem vergaß sie nicht, wo sie hergekommen waren, konnte sich vorstellen, was sie durchgemacht hatten und zwang sich, ihre Angst zu vergessen und stets daran zu denken, daß sie trotz ihrer Anzahl, Farben und Gerüche Menschen waren. Unter ihr schwankte die Strickleiter hin und her. Mish wartete, bis sie wieder gerade hing, dann setzte sie ihren Weg fort.
    Sie legte die Decken in einer Ecke ab, wo sich bereits ein paar Flüchtlinge in dem dichten, süßen Heu zusammengerollt hatten und nickte ihnen, bevor sie an der Menschenschlange vorbei zur Essensausgabe eilte, noch einmal freundschaftlich zu. Jes und Quilla fuhren damit fort, Fleisch und Brot auszugeben. Sie hielten die Köpfe gesenkt und waren ganz in ihre Arbeit vertieft. Für Mish wirkten sie wie am Boden verwurzelte Automaten – helle, verzauberte Geschöpfe des Stalles, die das Ziehen und Drücken der Menge verwandelt hatte. In Mish stieg eine heftige, beschützende Zärtlichkeit auf. Sie bahnte sich einen Weg zu den beiden und vergaß für einen Moment ihre innere Unruhe.
    „Jes? Quilla?“
    Jes sah auf und versuchte zu lächeln. Seine blauen Augen hatten dunkle Ränder und sahen in seinem müden Gesicht unnatürlich groß aus.
    „Ich glaube, wir haben nicht genug“, murmelte Quilla, ohne ihre Mutter anzusehen. „Wir haben fast kein Fleisch mehr, und mit dem Brot sieht es nicht anders aus.“ Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht war ausdruckslos und verschwitzt.
    „Das kriege wir schon hin“, sagte Mish. „So viele sind es ja nicht mehr. Wo steckt Laur?“
    „Sie sagte, sie könne den Gestank nicht ertragen, und außerdem sprächen sie einen barbarischen Akzent“, erwiderte Jes. „Sie ist ins Haus zurückgegangen.“
    „Verdammt“, sagte Mish. Obwohl dies wohl kaum der richtige Zeitpunkt für die grimmige Alte war, mit ihrer vornehmen Erziehung und feinfühligen Nase zu prahlen, gab es nichts, was man dagegen hätte tun können. Mishs Blick wanderte durch den Stall. Sie hielt nach ihrem kleinsten Kind Ausschau. „Morgen werden wir Duschen aufstellen. Sie hätte wirklich nicht gehen sollen. Wo ist Hart?“
    „Er ist möglicherweise mit Laur zurückgegangen“, sagte Jes. Als er schwankte, legte Mish einen Arm um ihn.
    „Du gehst nach Hause, Jessie. Ich werde dich ablösen.“
    Jes schenkte ihr einen dankbaren Blick und lief an der Menge vorbei auf das nächstliegende Tor zu, wobei er in der Dunkelheit des unbenutzten Teils des Stalles verschwand. Mish schaute ihm hinterher und wünschte sich, auch sie könne sich auf den langen, stillen Weg nach Hause machen. Quilla war mit der Schöpfkelle beschäftigt; sie wandte den Blick wieder ihrer Arbeit zu. Als Jason und Mish Terra verlassen hatten, war sie zwei Jahre alt gewesen. Jes und Hart waren auf Aerie zur Welt gekommen und hatten außer den Angehörigen ihrer Familie und Laur noch nie einen anderen Menschen gesehen. Aber wahrscheinlich konnte sich auch Quilla nicht mehr an die Menschenmassen des Planeten erinnern, auf dem sie geboren worden war.
    Und ich habe vergessen, deswegen ängstlich zu sein, dachte Mish ermattet. Aber dabei konnte ihr niemand helfen. Liebevoll und entschuldigend streichelte sie die Wange ihrer Tochter.
    „Kannst du es noch ein bißchen aushalten?“
    „Ich
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