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Die Flüchtlinge

Die Flüchtlinge

Titel: Die Flüchtlinge
Autoren: Marta Randall
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sie?“
    Er nickte, sein Schluchzen wurde schwächer. Jetzt würde Quilla verstehen. Sie hatte auch Verständnis für aufgeschrammte Knie, Schnittwunden an den Fingern und Alpträume. Sie würde zu all den Antiseptika, Bandagen und Berührungen ein magisches Äquivalent finden und die Welt wieder zu dem machen, was sie vorher gewesen war.
    Statt dessen sagte sie jedoch mit kühler Geschäftsmäßigkeit: „Das sind nur irgendwelche Leute, mein Kleiner. Sie tun dir nichts. Komm, wir gehen zusammen hinunter, dann wirst du es selbst sehen.“
    Hart starrte sie schockiert an. Ihr Gesicht schien sich für den Bruchteil einer Sekunde zu verwandeln, wurde madenähnlich. Noch bevor sich die Züge seiner Schwester wieder normalisiert hatten, stieß er sich gewaltsam von ihr ab, taumelte kurz, trat ihr dann wild gegen das Schienbein und lief weg.
    „Hart!“ rief Quilla, aber an seinen Fluchtbestrebungen änderte sich nichts. Er sprang auf eine Strickleiter zu, die er um ein Haar verfehlt hätte, schwankte einen Augenblick gefährlich hin und her und kletterte dann so schnell wie möglich nach unten und verschwand aus ihrem Blickfeld. Quilla blieb ängstlich stehen und betastete ihr Bein. Bevor sie sich den Lagerräumen zuwandte, hob sie die am Boden abgestellte Laterne auf und schaute in die Tiefe. Da sie wußte, daß Mish die Behälter in der Nähe bereits geleert hatte, hielt sie sich damit erst gar nicht auf, sondern ging auf die Stallwand zu, bahnte sich eine Gasse durch Taurollen und altem Gerumpel hindurch und erreichte schließlich eine große Kiste, die inmitten der anderen Gegenstände fast nicht zu erkennen war. Ohne hinzusehen hob sie die Laterne hoch und hängte sie an einen Nagel. Sie öffnete den Kistendeckel und starrte auf die im Inneren des Behälters befindlichen Sachen: ein dünnes, überzähliges Sonnenblech, das den Umhang eines Raumfahrers darstellte, eine zerfetzte rote Decke, die sie auf den Banketten und Festlichkeiten von Monarchen und Freunden getragen hatte, die kecke, grüne Mütze eines Weltraumhändlers, die spitze Kappe eines Streiters und die Epauletten eines Feldherrn von Saturn V. All das war aus geflochtenem Gras gemacht. Laurs alte Gewänder hatten dazu gedient, Kaiser und Kurtisanen, Piraten und Narren zu kleiden. Kronen, Schwerter, Blaster, Mäntel, Zelte, Bettvorleger: Quillas gesamte Kindheit lag hier auf einem Haufen. Lumpen und Glorie. Das dumpfe Gemurmel der Flüchtlinge und die kaum spürbaren, scharfen Gerüche des Stalles verblaßten, und Quilla sah die Magie, die in der vor ihr stehenden Kiste steckte, und wie durch Zauberei entstanden die Gestalten aus ihren Büchern und Träumen neu, übernahmen ihren und die Körper ihrer Brüder und wandelten durch die schmalen Gänge des Stalles, um ihre Abenteuer noch einmal zu erleben. Schließlich drangen die Geräusche von unten wieder zu ihr durch, und einen Moment konnte sie Harts Schmerz und Entsetzen beinahe verstehen. Noch einmal ließ sie sich in die Welt ihrer Erinnerungen zurückgleiten, denn sie wußte, daß die Kiste sich bald in das zurückverwandeln würde, was sie war: in einen Lumpenbehälter. Sie förderte einen königlichen Baldachin zu Tage, den Mantel eines toten Kriegers, die Teppiche aus fernen, imaginären Städten, die Nomadenzelte und den Raumfahrerumhang und stapelte alles sorgfältig vor sich auf den Boden, bis das, was in der Kiste zurückblieb, nur noch aus ein paar Holzstücken, einigen Plastikstreifen und den Grasmützen bestand. Dann schloß sie den Deckel wieder, warf sich die Stoffetzen über die Schulter und griff nach der Laterne. Sie zögerte erneut, aber dann ging sie auf die Strickleiter zu und fühlte, wie sehr ihr die Erschöpfung zu schaffen machte.
    Nachdem sie die schwankende Leiter hinter sich gebracht hatte, wandte sie sich der Menge zu und versuchte zwischen den sich hin und her bewegenden Gestalten ihren Vater auszumachen. Schließlich entdeckte sie ihn, eine Heugabel schwenkend, in der Nähe der weiter entfernten Stallwand. Ein paar andere Leute waren damit beschäftigt, das Heu, das er ihnen zuwarf, einzusammeln und auf dem harten Erdboden zu verstreuen. Einige der Leute hatten sich bereits hingelegt. Sie benutzten ihre Mäntel als Kissen und bedeckten die Augen mit den Armen. Quilla sah eine Frau, die ein Kleinkind an ihre Brust drückte; die Frau mit den Holowürfeln hatte die Würfel um sich verteilt und schlief nun – umringt von dem blassen Licht der Gesichter ihrer Lieben. Quilla
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