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Die Flüchtende

Die Flüchtende

Titel: Die Flüchtende
Autoren: Karin Alvtegen
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Hausaufgabenhilfe übernahm, zu dem Frau Forsenström keine Zeit hatte. Du liebe Güte, siemusste schließlich an ihre Wohltätigkeit denken! Wie würde es den armen Kindern in Biafra nur ergehen, wenn es Beatrice Forsenström nicht gäbe?
    Sibylla erinnerte sich, wie sehr sie diese Kinder beneidet hatte, die so weit weg wohnten und so verschreckt waren, dass irgendwelche Damen auf der anderen Seite der Erdkugel sich für sie engagierten. Als Sechsjährige hatte sie eine Nacht auf dem dunklen, scheußlichen Dachboden des Herrenhauses verbracht, in der Hoffnung, genauso wie diese Kinder zu werden. Hatte sich, als alle schliefen, mit ihrem Kissen hinaufgeschlichen und auf den Haufen mit den Flickenteppichen gelegt. Natürlich hatte Gun-Britt sie am Morgen gefunden und es sofort Beatrice gepetzt. Die Schelte hatte sich über eine Stunde hingezogen, und dann war ihre Mutter von einem Migräneanfall heimgesucht worden, der mehrere Tage lang andauerte. Und das war selbstverständlich auch Sibyllas Schuld.
    Eines aber hatte sie ihrer Mutter immerhin zu verdanken. In den fast achtzehn Jahren im Forsenström'schen Haus hatte sie sich die beinahe unnatürliche Fähigkeit erworben, die Stimmungslage ihrer Umgebung auszuloten und zu registrieren. Aus purem Selbsterhaltungstrieb hatte sie wie ein lebender Seismograph gelernt, all die Launen und Ausbrüche ihrer Mutter vorauszusehen und ihnen auszuweichen. Das hatte dazu geführt, dass sie nun ein enormes Gespür für die Körpersprache und Signale anderer Menschen besaß. Und das war etwas, was ihr in dem Leben, das sie jetzt führte, großen Nutzen brachte.
    Das Badewasser wurde allmählich kühl. Sie stand auf und schüttelte sich das Wasser und die Erinnerungen ab. Über einer Heizschlange neben der Badewanne hing ein dicker, flauschiger Morgenrock, den legte sie sich um und ging ins Zimmer. Im Fernsehen lief eine amerikanische Comedyserie mit eingespieltem Gelächter und Sibylla setzte sich und schaute eine Zeit lang zu. Nebenbei entfernte sie sorgfältig ihren Nagellack.
    Heil und rein.
    Regel Nummer eins.
    Das war es, was sie heute von anderen Obdachlosen in ihrem Bekanntenkreis unterschied und weshalb sie aus dem trostlosesten Elend einen Schritt hatte nach oben tun können.
    Wonach man aussah, darauf kam es an.
    Auf nichts sonst.
    Respekt war nur Menschen vergönnt, die nach den Konventionen lebten. Die sich von der Masse nicht zu sehr unterschieden. Wem es nicht gelungen war, sich einzufügen, konnte nichts anderes erwarten, als entsprechend behandelt zu werden. Schwäche war immer eine Provokation. Die Leute machten sich vor Schreck in die Hosen, wenn sie Menschen ohne Stolz sahen. Menschen, die sich benahmen, wie es ihnen gerade einfiel, ohne Scham im Leib. So zu werden, das musste man doch verdient haben? Man hatte doch eine Wahl. Dann musste man eben im Dreck liegen, wenn es das war, was man wollte. Wenn ihr artig seid, könnt ihr ein kleines Almosen von unserem Steuersatz bekommen, aber nur so viel, dass ihr nicht verhungert. Wir sind schließlich keine Monster, wir bezahlen jeden Monat, damit solchen wie euch geholfen wird. Kommt aber nicht an und haltet uns in der U-Bahn eure ekligen Hände unter die Nase und verlangt noch mehr! Das ist wirklich verdammt unangenehm. Wir kümmern uns um unsere Angelegenheiten und ihr euch um eure. Und wenn euch was nicht passt, dann sucht euch gefälligst einen Job. Gebt euch einen Ruck! Was heißt hier Wohnung? Glaubt ihr denn, dass wir unsere Wohnungen mit der Post zugeschickt bekommen haben? Aber wenn dies das Problem ist, dann muss wohl irgendwo ein Heim gebaut werden, wo solche wie ihr unterkommen können. In meinem Viertel? Nie und nimmer! Wir müssen schließlich an unsere Kinder denken. In unserer Gegend wollen wir keinen Abschaum haben, der stiehlt und fixt und Spritzen herumliegen lässt. Woanders gern.
    Denn es ist ja wirklich furchtbar, dass die Leute keine Bleibe haben.
    Sie cremte sich mit ihrer blauweißen Hautcreme ein und schaute das einladende Bett an. Es war ein phantastisches Gefühl, warm und sauber dazusitzen und zu wissen, dass man sich bald in ein richtiges Bett legen und die ganze Nacht ungestört schlafen konnte.
    Sie beschloss, noch ein bisschen sitzen zu bleiben und dieses Wissen zu genießen. Mama wusste, dass ich anders bin. Deshalb war sie immer so besorgt, dass ich enttäuscht würde, jedes Mal, wenn ich wirklich etwas wollte, versuchte sie mich auf das Gefühl vorzubereiten, das ich haben würde,
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