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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit
Autoren: Hakan Nesser
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einige Möwen, die über dem Wasser kreischen, und denkt: Möwen, die kreischen.
    Dann geht er wieder los und erinnert sich an einen Sonntag vor langer Zeit, der womöglich ein ganz anderer Wochentag gewesen ist, der ihn aber an diesen heutigen erinnert. An das hier.
    Er denkt: meine Hand in Vaters großer Hand. Neue Schuhe, oder nicht? Im Mund eine Art schwarzer Karamel, der Bel Ami hieß und einem ein Loch in den Gaumen ätzen konnte, wenn man zu viele auf einmal aß.
    Vaters Hand. Die Karamellen. Der Krieg. Der Vervielfältigungsapparat im Keller in der Zuijderslaan hinter der Wäschemangel. Vaters Name unter all den anderen auf dem großen Stein auf dem Markt und das Blasorchester, das im Regen spielte. Betsy, die fast seine Cousine war auf irgendeine eigentümliche Art und Weise, die er nie so recht verstand, und die fast Brüste bekam in einem Sommer (dem folgenden?) bei Familie Hooting draußen auf dem Lande, und die ihm manchmal fast erlaubte, seine Hand auf eine davon zu legen.
    Und der Geruch nach gekochtem Kohl und Frau Hooting, die ihn mit der Bibel unter dem Arm und in ihrem besten blaugeblümten Kleid ohne Ärmel, aber mit dicken Schulterpolstern, fragte, ob er nicht für immer bei ihnen bleiben wolle, jetzt, wo seine Mutter nach allem, was passiert war, so kränkelte.
    Und der Geschmack nach salzigem Fett, als er ihr in den Arm biss.
    All diese Abbilder der Gedanken sind so leicht, dass sie kaum einen Abdruck im Gedächtnis hinterlassen. Oder besser gesagt, all diese Erinnerungen sind so leicht, dass sie gar keinen Abdruck im Gedächtnis hinterlassen. Fußspuren im Wasser, Schrift im Wind.
    Jetzt sind die Möwen das Schreien leid geworden, sie landen vor seinen Füßen, aber ein paar Jugendliche fahren auf dem Rad vorbei, wodurch er sich daran gehindert fühlt, ein paar Gedanken mit den Vögeln auszutauschen. Sonst gefällt ihm immer das stumme Verständnis in den Augen der Tiere, und häufig pflegt er etwas Freundliches zu sagen, wenn sich die Gelegenheit bietet: Guten Abend, Herr Kater, worauf warten Sie denn hier? Die Augen sind die Spiegel der Seele, haben Sie das schon einmal gehört, Frau Kuh?
    Aber nie, wenn Leute in der Nähe sind. Nur unter vier Augen.
    Bei der Waldeskirche gerät er geradewegs in ein Durcheinander von Gottesdienstbesuchern, die aus der Messe kommen. Mit geläuterter Seele und begleitet vom mächtigen Glockenklang, der ungewollt Erinnerungen an Urgestein, Erz und Schwefel über die Stadt und ihre Einwohner wirft. Er wechselt die Straßenseite, um nicht in irgendetwas hineingezogen zu werden. Schaut auf die Uhr, es ist ein paar Minuten nach eins.
    Der größte Teil des Sonntags liegt noch unbenutzt vor ihm.
     
     
    Das alte Schauspiel hat den Höhepunkt überschritten, nach dem alles unwiderruflich wird. Die auf dem Schloss gastierende Theatertruppe hat den Brudermörder entlarvt, und der Brudermörder hat sich selbst entlarvt. Der junge Prinz weiß, und der Usurpatorkönig weiß, dass er weiß. Was die Königin, diese schwer zu deutende Frau, weiß, das bleibt im Dunkel. Maertens spürt, dass er sie nicht im Griff hat. Er begreift, dass es ihm nicht gänzlich gelungen ist, sie begreiflich zu machen. So ist es leider nun einmal. Dennoch geht es weiter.
    Sorgsam wägt er jedes Wort ab. Lauscht dem Rhythmus und der Kadenz in jeder neuen Strophe, bevor er sie in sein großes Buch einträgt.
     
    O Herz, vergiss nicht die Natur! Nie dränge
Sich Neros Seel’ in diesen festen Busen!
Grausam, nicht unnatürlich lass mich sein;
Nur reden will ich Dolche, keine brauchen.
     
    Er taucht den Stift ein und registriert, dass die Tinte zur Neige geht. Seine Gedanken wandern zu Langobrini, seinem Lehrmeister – der seine eigene Tinktur in der Zelle herzustellen pflegte.
    Aus Schuhcreme, Soda, Kreosot und Kaffee ...
     
     
    Eines Tages im Herbst, es muss im siebten Jahr gewesen sein, kam Langobrini in die Abteilung. Ein schmächtiger, älterer Herr, der sich auf eine leise Art und Weise sofort von den übrigen Häftlingen unterschied. Maertens bemerkte ihn zum ersten Mal während des Mittagessens. Der Neuankömmling hatte sich an einem abgelegenen Tisch niedergelassen  – er saß da, aß Suppe und kaute sein Brot und schien vollkommen damit zufrieden zu sein, diese einfachen Tätigkeiten ausüben zu können. Zufrieden und in sich ruhend. Als hätte er selbst entschieden, hier im Gefängnisspeisesaal zu sitzen, als hätte er entschieden und geplant, sich genau an diesem Platz zu genau
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