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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit
Autoren: Hakan Nesser
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sein, denkt er.
    »Wieso habe ich das vorher nie gesehen? Natürlich weiß ich, dass du da ein Muttermal hast, aber das hier ist ja ganz angeschwollen ... Lass mich noch mal sehen!« Sie zieht die Bettdecke herunter und drückt vorsichtig auf den Fleck. Die Berührung ist ganz leicht, dennoch spürt er einen stechenden Schmerz. Als säße sie da und bohrte den Finger in eine offene Wunde.
    »Wie lange ist das schon so?«
    »Ein paar Wochen ... drei.«
    »Warst du beim Arzt?«
    »Nein ...«
    »Du bist nicht ganz gescheit. Du musst sofort zum Arzt gehen, Maertens, hörst du. Das kann Krebs sein, weißt du.«
    Ihre Direktheit ist bewundernswert. Er weiß, dass sie möglicherweise Recht hat. Sehr wahrscheinlich sogar. Er hat sich in der Bibliothek entsprechende Lexika angesehen und ist auf drei mögliche Diagnosen gekommen: Verruca seborrhoica, Basaliom, Malignes Melanom. Die beiden Ersteren sind relativ harmlos, das Dritte umso ernster, vermutlich auch viel wahrscheinlicher.
    Er hat beschlossen, nicht weiter zu forschen. Nicht herausfinden zu wollen, welche Alternative zutrifft. Das wird sich sowieso zeigen, insgesamt sind inzwischen sieben Wochen vergangen, seit er den wachsenden Fleck bemerkt hat. Bis jetzt war es ihm gelungen, ihn vor Birthe zu verstecken, aber jetzt ist er also entdeckt worden.
    »Und?«
    »Und was?«
    »Wann willst du zum Arzt gehen?«
    »Ich habe nächste Woche einen Termin«, lügt er.
    »Bei was für einem Arzt?«
    »Bei einem Onkologen«, sagt er. »Wo denn sonst?«
    Damit gibt sie sich zufrieden. Maertens atmet auf. Sie deckt ihn wieder zu und steht auf. Er bleibt liegen und lauscht ihren Geräuschen aus dem Badezimmer. Überlegt einen Augenblick, sofort nach Hause zu gehen. Der Morgen danach mit Birthes Faible für heiße Schokolade gehört zu den anstrengendsten Aspekten ihrer Beziehung, den er am liebsten schwänzen würde, indem er davonliefe.
    Aber er bleibt. Hört sie in der Küche rumoren. Tastet selbst mit den Fingern die Stelle ab. Er weiß, wie die Entwicklung laut Alternative drei aussehen wird. Sie wird schnell vonstatten gehen. Ganz plötzlich. Mehr als zwei Jahre werden nicht nötig sein, nicht, wenn man die Behandlung so lange wie möglich hinausschiebt.
    Ich habe Krebs, denkt er.
    Ich werde in zwei Jahren sterben.
    So sieht mein Leben aus.
    Es ist kein Krebs, denkt er dann. Nur eine gutartige Seborrhoica. Ich werde noch leben, wenn ich hundert bin.
    Diese beiden Identitäten sind möglich. Eine dritte gibt es nicht, und diese Feststellung macht ihn fast vergnügt. Nicht wissen zu können, welche zutrifft. Die Möglichkeit, mit diesen beiden Alternativen gleichzeitig zu leben – die eine schließt die andere aus, und dennoch stehen sie Seite an Seite  –, ist in höchstem Maße verlockend. Er weiß, warum:
    Haben und nicht haben. Alles oder nichts.
    Nein, alles und nichts.
    Ein Bild seines Lebens?
    Er steht auf und kann riechen, dass Birthe die Milch in der Küche hat überkochen lassen. Ein unterdrückter Fluch entfährt ihr. Er beginnt sich anzuziehen. Stellt fest, dass das Reine Leben sie noch nicht ganz in seiner Gewalt hat.
     

5
     
    E in paar Wochen später ist er wieder einmal auf dem Heimweg.
    Es ist ein ruhiger, grauer Sonntag. Plötzlich ist Wärme in der Luft zu spüren. Als er den Fluss entlang geht, kann er fühlen, dass feuchter Wind vom Meer hereinweht und sich nass auf seinem Gesicht niederlässt. Es gibt keine Schneeflecken mehr im Schatten, der Winter scheint für dieses Mal vorüber zu sein. Wenn man in dieser Küstenlandschaft überhaupt von Winter reden kann.
    Er geht in gemütlichem Tempo und ist guten Mutes. Er hat es nicht eilig, ins Haus zu kommen, bewegt sich fast bewusst langsam, um genau das hinauszuzögern. Will andererseits auch keine Umwege machen, einen Spaziergang konstruieren, er will nur die Zeit ausdehnen, so weit es möglich ist. Er weiß, dass dieses Gefühl einer postkoitalen Widerstandslosigkeit sich verlieren wird, sobald er zu Hause ist. Es wird von ihm abfallen wie ein verirrtes Lachen, dieser einzigartige Zustand, der einzige, in dem ein Mensch ausruhen kann. Bei Nielemann’s bleibt er stehen und kauft sich eine Zeitung. Einen Monat weiter im Jahr könnte er sich auf eine Bank setzen und sich in die Zeitung vertiefen. Jetzt ist es dafür noch zu früh. Er muss sich damit begnügen, sie einzurollen und unter den Arm zu klemmen.
    Dann bleibt er noch eine Weile stehen. Betrachtet den Fluss und denkt: der Fluss . Betrachtet
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