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Die Flammen der Dunkelheit

Die Flammen der Dunkelheit

Titel: Die Flammen der Dunkelheit
Autoren: Evelyne Okonnek
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lautes Rauschen und Plätschern kündigte ihm ein Gewässer an. Dies musste der Bach sein, der von Osten nach Westen an der Hütte vorbeifloss, und damit hatte er eine Wegmarke gefunden, die ihm bestätigte, dass er tatsächlich nach Norden ging. Außerdem konnte er dort seinen Durst stillen und zum Glück entdeckte er am Ufer Wasserkresse, die er hungrig verschlang. Das beruhigte wenigstens den Magen, der schon seit einiger Zeit unaufhörlich murrte.
    Nicht lange danach schenkte der Himmel der verwüsteten Erde ein Wunder. Sonne durchbrach die Wolkendecke und ließ die Feuchtigkeit des Regens verdampfen. An manchen Stellen des Waldes sammelte sich sogleich dichter Nebel und durch die Verheerungen des Sturmes wirkte alles fremd. Glic war bereits mehrmals vom Weg abgekommen. Trotzdem genoss er die ungewohnte Helligkeit und Wärme, blieb hie und da stehen, um sie anzuschauen. Das ließ schwarze Flecken vor seinen Augen schwimmen, aber die waren ihm egal. Es geschah zu selten, dass sich Sonnenstrahlen bis hier unten durchkämpfen konnten, und manchmal glaubte er sogar, das Himmelslicht wäre für immer verschwunden. Er spürte sofort eine herrliche Leichtigkeit, die auch die letzten Schatten des Sturms vertrieb und die ganze Zerstörung in einem milderen Licht erscheinen ließ. Übermütig balancierte er auf umgestürzten Baumstämmen, ohne darauf zu achten, wohin er seine Füße setzte, die Arme ausgebreitet, als wollte er das Leuchten auffangen. Nicht nur er freute sich über diese Veränderung, der ganze Wald schien aufzuatmen, das Moos in atemberaubender Geschwindigkeit aufzublühen. Eine Ewigkeit hatten sie darauf gewartet! Seit Jahren schon konnte man das Blau des Himmels überhaupt nicht mehr sehen. Stattdessen gab es gewaltige Unwetter, die früher in dieser Jahreszeit kaum vorgekommen waren, soweit man von Jahreszeiten überhaupt noch sprechen konnte. Eigentlich gab es nur Schnee und eisige Kälte oder endlosen Regen und erträgliche Kälte. Glic spürte in sich und auch um sich herum die Hoffnung aufkeimen, dass es damit vorbei sein könnte. Doch viel zu schnell wichen Sonne und Wärme wieder dem wohlbekannten Grau. Die zurückkehrende Kühle war jetzt kaum zu ertragen. Glic wünschte sich eine Möglichkeit, den Lauf der Dinge umzukehren, aber fand sich schließlich damit ab, dass es nicht in seiner Macht stand. Das Zwitschern eines Rotkehlchens half ihm den Gleichmut wiederzufinden. Er schimpfte ein wenig auf den Sturm, der ihn so lange in dem Fuchsbau festgehalten hatte, und setzte dann seinen Weg fort. Die Alte würde ihm wegen seines Ausbleibens endlose Vorhaltungen machen. Dabei war er mit beinahe zwölf Jahren groß genug, um auf sich aufzupassen, sollte sie sich doch um sich selbst kümmern! Ganz verdrängen ließ sich das schlechte Gewissen jedoch nicht und er spürte eine seltsame Unruhe in sich. Erst dachte er, das käme von der tiefgreifenden Umgestaltung der vertrauten Umgebung, aber dann schien es ihm, als riefe ihn jemand. Oder war es nicht eher so, als würde er beobachtet? Suchende Augen schienen ihm zu folgen und jagten ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Immer schneller hastete er zwischen dicht stehenden oder umgestürzten Bäumen hindurch, bis er beinahe rannte. Außer Atem kam er bei der kleinen Lichtung an, auf der die Hütte stand. Sofort fiel sein Blick auf den Kamin, aus dem kein Rauch drang. Er verlangsamte den Schritt und blieb schließlich stehen, sah sich um und lauschte. Nichts Ungewöhnliches war zu hören, im Gras keine Spuren von ungebetenen Besuchern. Zwar konnte der Sturm diese verwischt haben, aber er fühlte, dass sie allein waren. Trotzdem stimmte etwas nicht, obwohl scheinbar alles gleich geblieben war. Der Wind war gnädig mit diesem Teil des Waldes umgegangen. Erneut musterte er sein Zuhause, das bis auf den fehlenden Rauch aussah wie an jedem anderen Tag. Nein, hier war kein Fremder aufgetaucht! Mit klopfendem Herzen betrat er schließlich die Hütte.
    Im Hauptraum war alles unverändert, nur das Feuer brannte nicht mehr. Vermutlich schon seit einiger Zeit, denn es war kalt. Die Decke auf seinem Lager neben dem Herd lag genauso da, wie er sie vor einigen Tagen von sich geschoben hatte. Sogar der nur halb gegessene Fladen, inzwischen Ziel einer Ameisenstraße, befand sich noch auf dem Tisch. Glic wurde immer beklommener zumute. Was war mit der alten Frau geschehen? Leise schlich er hinüber zur zweiten Tür, um in ihre Kammer zu schauen. Er fand sie reglos im Bett.
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