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Die Flammen der Dunkelheit

Die Flammen der Dunkelheit

Titel: Die Flammen der Dunkelheit
Autoren: Evelyne Okonnek
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Es kam ihm vor, als atmete sie nicht mehr. Das Gesicht war bleich und noch eingefallener als sonst. Die Nase ragte spitz und fahlgelb empor. Mit zitternden Fingern berührte er ihre Hand. Sie war kalt und er zuckte zurück. Gerade wollte er aus der Hütte rennen, als sie die Augen aufschlug.
    »Du kommst spät«, flüsterte sie so leise, dass er sich hinunterbeugen musste, um sie zu verstehen.
    »Der Sturm, er … er hat mich aufgehalten«, stammelte er und erschrak, als sie plötzlich mit festem Griff seine Hand packte.
    »Vergiss nicht, was ich dir beigebracht habe, Junge! Und verliere nie die Feder, es wäre dein Tod!«
    Gliceas nickte, nicht sicher, ob sie das wahrnahm.
    Aber sie sprach in drängendem Tonfall weiter, als hätte sie keine Zeit zu verlieren. »Geh in die Stadt und suche Ardal, den Schreiber. Er wird dich beschützen, bis die Zeit reif ist.«
    »Reif für was?«, fragte er verwundert. Sie blieb ruhig, die Hand, mit der sie ihn hielt, erschlaffte, und gerade als er glaubte, sie wäre bereits von ihm gegangen, entfuhr ihrem Mund ein kaum hörbares Seufzen und sie wisperte: »Verbrenne … die Hütte … verbrenne alles …«
    Gliceas brauchte zwei Tage, ehe er sich überwinden konnte, sein Zuhause und den Leichnam der alten Frau dem Feuer zu übergeben. Er redete sich ein, warten zu müssen, bis alles trocken genug wurde, um zu brennen. In Wahrheit konnte er sich nicht trennen, es war alles, was er kannte. Hatte er sich auch oft danach gesehnt, die Welt zu erkunden, bekam er plötzlich Angst vor dem Unbekannten. Irgendwann siegte die Neugier über seine Ängste und er packte entschlossen ein paar Habseligkeiten in einen Beutel, zog die Tür hinter sich zu und zündete die Bündel aus dürren Ästen an, die er vor der Hütte und rings herum aufgeschichtet hatte. Nicht lange und die Flammen schlugen oben zum Dach hinaus. Er beobachtete, wie die Wände einstürzten, und sein Blick verschwamm.
    »Grian sei mit dir!«, sagte er leise, rieb sich die Augen und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

    Zarte Schleier in allen Farben verhüllten die Wände und wehten in dem Luftzug, den die Frau mit sich brachte, als sie die Gänge entlangeilte. Die fließende Art ihrer Bewegungen, als befände sie sich unter Wasser, die hohe schlanke Gestalt, die offenen hüftlangen schwarzen Haare mit dem bläulichen Glanz und die mehrfarbigen Augen in einem ungewöhnlich ebenmäßigen Gesicht verrieten, dass kein menschliches Blut in ihren Adern floss. Auch der Stoff ihres Gewandes war sicher nicht von eines Menschen Hand gewebt worden. Zu fein und leuchtend sah er aus, mehr ein Gespinst aus Regenbogen als Tuch von robuster Wolle. Dies galt auch für die Schleier zu beiden Seiten der Flure. An einigen Stellen schienen sie aus Gold- und Silberfäden zu bestehen, an anderen wurden sie zu einem Schimmern, als wären sie nicht mehr stofflich, sondern bloße Sinnestäuschung, die Luftwirbeln gleich durch einen sommerlichen Himmel wogte, der Wärme und Licht versprach. Ab und an traten die Wände zurück und öffneten sich zu einem großen Rund, in das mehrere Gänge mündeten. Hier änderte sich die Struktur des Stoffes, wurde zu einem gleißenden Fließen, einem rhythmisch bewegten Meer, dessen Oberfläche die Sonne widerspiegelte. Fast meinte man, das Rauschen des Ozeans zu hören. Wasserbecken und Sitzplätze in Muschelform, die in der Mitte des Raumes zum Verweilen und Träumen einluden, verstärkten die Illusion. An einem dieser Plätze wuchs in der Mitte ein Baum, dem man erst bei genauerem Hinsehen anmerkte, dass er aus Jade und Jaspis gehauen war. Seine Zweige und Blätter waren so fein gearbeitet, dass man meinte, ein Rascheln zu vernehmen. Auf einem Ast hoch oben in der Krone hockte ein Vogel, dessen lange Schleppe beinahe den Boden erreichte. Das wirklich Ungewöhnliche war jedoch die Farbe des Federkleides, die intensiv schillerte und vor allem beständig wechselte. Man hätte nicht bestimmen können, ob Blau- oder Rottöne vorherrschten oder der Vogel sogar von grellem Gelb oder Grün war. Selbst metallisches Glitzern war zu sehen, wenn er den Kopf hin und her drehte, um die Umgebung zu beobachten. Sein Gesang war mindestens so einlullend wie das Plätschern der Brunnen.
    Doch Lasair war nicht nach Ruhe und fantasievollen Gedanken zumute. Sie achtete auch kaum auf das Tier. Unruhe hatte sie erfasst, etwas hatte sich verändert, aber sie hatte Schwierigkeiten auszumachen, was geschehen war. Ganz bestimmt war sie
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