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Die Flammen der Dunkelheit

Die Flammen der Dunkelheit

Titel: Die Flammen der Dunkelheit
Autoren: Evelyne Okonnek
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nicht die Einzige, die diesen winzigen losen Faden im Gefüge der Welt bemerkt hatte. Aithreo achtete Tag und Nacht auf den Verlauf der Dinge, er musste um ihrer aller Sicherheit willen darauf aufpassen. Seine Wahrnehmung schien dafür am besten ausgeprägt, und er konnte meist am klarsten sehen, was geschah. Ob Grian in ihrer Weisheit ihn deshalb zu ihrem Gefährten erwählt hatte? Lasair war unschlüssig, wie alle anderen hatte sie diese Wahl überrascht. Doch von heute aus betrachtet war es einzig Aithreos Fähigkeiten zu verdanken, dass ihr Volk trotz Grians Verschwinden überlebt hatte.
    Lasair brauchte nicht lange nach ihm zu suchen. Sie wusste genau, wohin er sich zurückgezogen hatte. Er besaß ein unfehlbares Gespür, wann es an der Zeit war, den Stern zu befragen. Gerne ging er nicht in Grians Reich. Niemand von ihnen tat das, zu viele Erinnerungen waren mit den Gegenständen darin verknüpft. Auch Lasair zögerte, bevor sie den goldenen Schleier beiseiteschob, der den Eingang verhüllte. Manchmal konnte sie den Verlust ihrer Schwester kaum ertragen und in Grians Gemach war der Schmerz darüber besonders stark. Heute musste niemand mehr die Augen schließen, wenn er eintrat. Das strahlende Licht des Sterns war nur noch ein unstetes Flackern, das kaum den Raum durchdrang, und sie fürchtete den Tag, an dem es nur noch ein Glimmen sein würde, um alsbald völlig zu erlöschen. Was würde dann mit ihnen allen geschehen, könnte die Welt weiter bestehen? Nicht einmal Maidin hatte darauf eine Antwort. Die letzte ihrer Prophezeiungen hatte keinen Aufschluss darüber gegeben und Maidin selbst war seit Langem verstummt.
    Wie sie vermutet hatte, stand Aithreo vor der Alabastersäule, seine linke Hand auf den mannshohen Bergkristall gelegt, in dessen Innerem der Stern eingeschlossen war. Lasair trat näher, die Seide ihres Gewandes raschelte. Sie gab sich keine Mühe, leise zu sein. Er hatte sicher längst wahrgenommen, dass sie kam.
    »Was siehst du?«, fragte sie und in ihrer Stimme schien das Trillern eines Vogels mitzuschwingen.
    Aithreo drehte langsam den Kopf und öffnete seine Augen. Sie sah die silbernen Lichtpünktchen, die ihn so sehr von den anderen unterschieden, um seine Pupillen tanzen.
    »Er ist allein.«
    Lasair hob erschrocken die Hand, als wollte sie die Nachricht abwehren. »Welcher der beiden?«
    Eine Weile sagte Aithreo nichts, dann ließ er den Kristall los. »Cleas’ Sohn.« Weitere Erklärungen gab er ihr nicht.
    Lasair war seine Ruhe unbegreiflich. »Wir müssen ihn retten!«, sagte sie drängend und machte noch einen Schritt auf ihn zu. Doch sie erntete nur ein Kopfschütteln. »Aber …«, hob sie an. Ein Blick ließ sie verstummen. Oder war es der Frost, der sich plötzlich in dem Raum ausbreitete und als Reif auf den zarten Schleiern niederließ, die die Wände bedeckten? Nun, dagegen konnte sie etwas tun! Flammen züngelten um ihre Füße, breiteten sich in alle Richtungen aus. Augenblicklich wurde es wärmer. »Dies ist Grians Reich!« Lasairs Empörung war nicht zu überhören. Niemand außer ihrer Schwester hatte das Recht, hier seine Macht spielen zu lassen. Die Flammen fielen in sich zusammen, der Reif schmolz und verdampfte.
    Aithreo ging auf den Vorwurf nicht ein. Starr schauten sie einander ins Gesicht, als könnten sie sich mit Blicken durchbohren. Die Anspannung ließ die Luft knistern. Keiner von ihnen sah, wie der Stern im Bergkristall für einen Augenblick heller leuchtete.
    »Wir greifen erst ein, wenn er in Gefahr ist.« Mit diesen Worten löste Aithreo den Bann und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. Lasair hielt ihn am Ärmel fest, gelb und orange loderte es in ihren Augen, die mehr denn je einem wilden Feuer glichen. »Ich werde ihn beschützen. Sie sind unsere einzige Hoffnung!«
    Sie hatte Widerspruch erwartet, doch Aithreo nickte nur. »Das ist deine Aufgabe«, sagte er ruhig, als wäre es schon länger seine Idee gewesen. Er machte sich los von ihr, und kurz bevor er sich durch den Schleier am Eingang schob, wandte er sich noch einmal zu ihr um. »Vergiss darüber deine anderen Pflichten nicht!« Aithreo sah nicht mehr, wie Lasair buchstäblich aufflammte.

    Nur einen Augenblick war Dídean unaufmerksam gewesen, und schon entwischte ihr Schützling. Sie ahnte, wohin er verschwinden wollte, denn nur sehr widerstrebend war er ihr gefolgt, um sich im Weinkeller vor dem Orkan in Sicherheit zu bringen. So schnell war das Unwetter aufgezogen, dass sie nicht einmal
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