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Die Flamme von Pharos

Die Flamme von Pharos

Titel: Die Flamme von Pharos
Autoren: Michael Peinkofer
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vollendete Bau der Basilika vom Heiligen Herzen Jesu, dessen Türme und Kuppel die Stadt einst weit überblicken werden.
    Was sich am Montmartre abspielt, ist schwer zu beschreiben und für englische Begriffe kaum zu verstehen. Prunk, wie er in London nur an der Pall Mall anzutreffen ist, und Elend wie in den Gassen des East End begegnen einander scheinbar ohne Scheu; wohlhabende Damen und Herren flanieren zu den Lokalen und Varietés, während zwielichtige Gestalten in dunklen Nischen kauern und Dirnen ihre Dienste feilbieten, mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der junge Maler ihre Bilder zum Kauf anbieten. Hier liest ein mittelloser Künstler für ein paar Centimes Oden und Gedichte, dort versucht ein Taschenspieler, den Leuten ihr Geld abzuluchsen.
    Harte Wirklichkeit und schöner Schein liegen nah beisammen an diesem Ort. Allenthalben ist Musik in den Gassen zu hören, die von den unterschiedlichsten Gerüchen beherrscht werden, einige davon Ekel erregend, andere betörend. Selbst nach Einbruch der Dunkelheit herrscht auf den Hauptstraßen ein quirliges Schieben und Drängen. Das Viertel scheint bei Tag und Nacht auf den Beinen zu sein, überall wird diskutiert und parliert. Moderne und Fortschritt scheinen greifbar an diesem Ort, und nach den Erlebnissen des Tages bin ich dankbar und glücklich, ein Teil davon zu sein …
    R UE L EPIC , M ONTMARTRE
A BEND DES 17. J UNI 1882
    Im Foyer des »Miroir Brisé« herrschte drückende Enge.
    Von außen machte das Theater, das in den Mauern eines alten Weingehöfts Platz gefunden hatte, einen wenig Vertrauen erweckenden Eindruck: Von Rissen durchzogene Mauern, von denen der Putz an vielen Stellen abgesprungen war, umgaben das Etablissement, und wäre das von flackernden Gaslaternen beleuchtete Schild nicht gewesen, das das Theater als das »Haus der tausend Sensationen« anpries, hätte wohl niemand einen derart illustren Ort hinter solch trister Kulisse vermutet. Dass dieser äußere Eindruck täuschte, merkte der Besucher erst, wenn er durch die breite Eingangstür trat.
    Denn wie so vieles am Montmartre war auch das »Miroir Brisé« nicht, was es auf den ersten Blick zu sein schien. Ein mit roten Teppichen ausgeschlagener Raum, dessen Wände mit ebenfalls roten Seidentapeten versehen waren, die kunstvoll verschlungene Muster aufwiesen, empfing denjenigen, der die Welt des »zersprungenen Spiegels«, betrat. Kristallene Lüster hingen von der Decke des Foyers, das die treffende Bezeichnung la chambre rouge trug. Hier drängten sich die Gäste, während ihnen von beflissenen Dienern in blauen Livrées Mäntel und Hüte abgenommen wurden und grell geschminkte junge Frauen mit wahren Ungetümen von Federputz Champagner servierten.
    Sarah Kincaid verzichtete darauf, von dem perlenden Getränk zu probieren; ihr bereitete es ungleich mehr Vergnügen, am Rand zu stehen und all die illustren Gestalten zu beobachten, die das Foyer bevölkerten: Da waren ein beleibter Herr in Gehrock und Zylinder, der ein honoriges Amt zu bekleiden schien, dessen schrille Begleiterin jedoch offensichtlich einem weitaus weniger angesehenen Gewerbe nachging; ein junger Bonvivant, der zur Freude seiner applaudierenden Freunde von seinen amourösen Eskapaden berichtete; eine hagere Dame, deren pikierter Gesichtsausdruck darauf schließen ließ, wie sehr sie sich über diesen Ort empörte (was sie jedoch nicht daran hinderte, ihn aufzusuchen); schließlich ein Zwergwüchsiger, der durch die Reihen der Wartenden huschte und sich einen Spaß daraus machte, die Damen zu necken. Das Gelächter, das die von Zigarrenrauch geschwängerte Luft erfüllte, zeigte die ganze Bandbreite menschlicher Heiterkeit, vom verschämten Kichern bis zum ordinären Dröhnen. Es übertönte das Klavier, das mit frivolem Klimpern einen Musette-Walzer intonierte, und über allem lag eine unausgesprochene Spannung, die ihren Höhepunkt erreichte, als die Pforten zum Theatersaal sich öffneten.
    Mit lautstarken »Aaahs« und »Ooohs« auf den Lippen drängten die Besucher in den Zuschauerraum, wobei mancher feine Herr in Rock und Schleife höchst unfein die Ellbogen zum Einsatz brachte. Sarah, die dem Treiben aus der Distanz beiwohnte, wartete ab, bis das ärgste Gedränge sich gelegt hatte. Dann erst zeigte auch sie ihre Platzkarte vor, worauf ein Theaterdiener sie zu ihrem Sitz geleitete.
    Einmal mehr kam Sarah nicht umhin zu staunen. Hatte schon das Foyer mit überladenem Dekor überrascht, so galt dies umso mehr
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