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Die Favoritin

Titel: Die Favoritin
Autoren: Davenat Colette
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ich während der Aussaat geboren wurde, erhielt ich den vorläufigen Namen ›Maisregen‹. Er sollte mir die gütigen Mächte gnädig stimmen. Sobald ich alt genug war, holte mich meine Mutter aus der Wiege, in der ich fest gewickelt und angebunden lag – eine leichte Bretterkiste auf vier am Kopfende erhöhten Füßen, die sie überall auf dem Rücken mit sich trug, damit sie bei der Arbeit die Hände frei hatte –, und legte mich da und dort in lappengepolsterte Gruben, wo ich nach Belieben zappeln konnte und mein winziges Reich mit den Augen zu erkunden begann.
    Von der Straße aus, die Ihr nach Cuzco kamt, Pater Juan, müßt Ihr unsere prächtigen Terrassenpflanzungen gesehen haben, die mit ihren Stützmauern an den Bergflanken aufsteigen wie gewaltige Treppen. In dieser idealen Höhe, auf diesen Terrassenäckern aus fruchtbarer Erde, die unsere Vorfahren Mann für Mann und Kiepe für Kiepe dort hinaufgetragen haben, bauen wir Mais an. An dem Hang darüber drängt sich das Dorf. Das unsere umfaßte gut dreißig Familienoberhäupter.
    Wir bewohnten eine Hütte wie alle anderen auch. Ein Strohdach, Mauern aus Lehm, Steinen und Grasbüscheln, die Tür eine so niedrige Öffnung, daß die Erwachsenen hindurchkriechen mußten, und das, damit die Körperwärme, die wir und unsere Meerschweinchen abgaben, sich nicht verflüchtigte. In diesen Höhen herrscht jede Nacht Frost.
    Erwartet nicht, daß ich Euch irgendwelches Mobiliar beschreibe. Mich setzt es noch immer in Erstaunen, mit wie vielen Betten, Tischen und Sitzmöbeln die Spanier ihre Wohnungen vollstellen! Sie verweichlichen den Körper und berauben ihn seiner natürlichen Würde.
    Sowie ich laufen konnte, ruhten aller Blicke auf mir. War ich mir meines reizenden Anblicks bewußt? Wahrscheinlich. Ich hörte zu oft darüber reden! Und doch pflegen sich die Leute bei uns eher an einem üppigen Maiskolben oder an der Farbe eines Lamafells zu entzücken als an einem lieblichen Kind.
    Ich war sechs Jahre alt, als meine Eltern beschlossen, den Vater meines Vaters meinetwegen um Rat zu fragen. Er lebte hoch oben, am Saum des Felsens und der Puna, wo die Lamas weiden.
    Der Vater meines Vaters hatte die Ehre, über die heilige Huaca zu wachen.
    Jede Dorfgemeinde oder Ayllu hat ihre Huaca, sie entspricht in etwa dem Schutzpatron eines Dorfes bei Euch. Ihr werdet von unseren Huacas gehört haben. Eure armen Geistlichen verfolgen sie wie die Gehetzten. Aber um sie auszurotten …! dazu müßte man die Seen trockenlegen, die Berge versetzen, die Bäume schlagen! Huacas finden sich überall in der Natur, und wir Andenbewohner sind ausgesprochen begabt, ihre magische Macht zu entdecken.
    Unsere Huaca war ein hoher Fels, der wie ein Wächter vor der Quelle aufragte. Wir verehrten ihn: es war der Markayok, der große Ahne. Man hatte mich gelehrt, er habe, bevor er zu Stein wurde, die ersten Bewohner der Ayllu gezeugt. Sie heirateten untereinander, und der Brauch blieb bestehen. Kein Fremder durfte im Dorf einen Hausstand gründen … Wir alle, Männer, Frauen, Kinder, waren also wie Haare auf einem Kopf, waren Blutsverwandte kraft unserer Wurzeln. Eine Ayllu ist eine Gemeinschaft im Fleisch, in der jeder für jeden bedingungslos einsteht. Diese geistige Verfassung müßt Ihr Euch klarmachen, Pater Juan, sonst könnt Ihr unser Volk nie begreifen.
    Der Vater meines Vaters erwartete uns also vor der Huaca. Er war in Fuchshäute gehüllt wie in ein Fell. Erst viel später, als sein Leichnam zur Einbalsamierung vorbereitet wurde, sah ich, wie mager er war. Er hatte ein kraftvolles Gesicht, Wangenknochen wie zwei polierte Holzkugeln und Augen, die Blitze schleudern konnten. Für mich war er zugleich ein Schreckens- und ein Wundermann. Jedesmal, wenn ich ihm einen Krug Chicha hinaufbrachte, schenkte er mir einen Federkiel voller Läuse. An Läusen hatten wir keinen Mangel, aber die seinen verwahrte ich fromm in ihrem Behältnis. Da sie sich an seinem Leib gemästet hatten, erschienen sie mir von ganz anderem Wesen als die, gegen die meine Mutter kämpfte.
    Nachdem wir unsere Andacht verrichtet hatten, packte er das Meerschweinchen, das meine Eltern auf seinen Befehl mitgebracht hatten, am Nacken und schlitzte ihm mit einem Flintmesser die linke Flanke auf. Er entnahm das Herz, die Lungen, die Eingeweide, hob sie der Sonne entgegen und begann sie zu studieren. Ich hatte noch nie einem Opfer beigewohnt. Beim Anblick des leblosen Meerschweins und all des Blutes auf seinem weichen,
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