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Die Farben der Wirklichkeit

Die Farben der Wirklichkeit

Titel: Die Farben der Wirklichkeit
Autoren: Körner
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hatte lange auf ihn warten müssen, und insgeheim vermutete sie, daß er wohl in der Lage war, auch andere junge Frauen schweben zu lassen. Als sie ihn jedoch zur Rede stellen wollte, öffnete er seine Hände und begann mit den zauberhaften Bewegungen. Ohne daß die Frau sich dagegen wehren konnte, erhob sie sich sachte in die Luft, fühlte sich hilflos und ohne Willen. Sie wollte schreien — aber kein Ion kam aus ihrem Mund. Sie wollte weinen — aber dies hatte sie schon lange verlernt. Sie wollte bitten — aber sie wußte nicht mehr, was das ist. Nur ein gequältes Lächeln gelang ihr. Daraufhin ließ der Mann sie wieder auf den Boden sinken. Ohne ein Wort stürzte die junge Frau aus dem Haus. Erst in einem nahen Park verlangsamte sie ihren hastigen Lauf. Abgekämpft und verzweifelt ließ sie sich auf eine Bank sinken, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte in ihren Körper hinein.
    Als sie schließlich aufblickte, erschrak sie. Neben ihr auf der Bank saß ein Mann im nächtlichen Dunkel und schaute sie unverwandt an. Er sagte nichts. Die junge Frau wurde unruhig. Aber aufspringen und davonlaufen — das wollte sie nicht. Außerdem war etwas im Blick des fremden Mannes, das sie festhielt. Und irgendwann fing sie an zu reden.
    Sie erzählte von dem Mann mit den Luftballons, von ihren Tränen, die zu Perlen wurden und von dem furchtbar schönen Gefühl zu schweben.
    Und dann begann sie zu weinen: Salzige Tränen der Hoffnungslosigkeit und warme Tränen der Erleichterung. Der Mann saß schweigend neben ihr. Sah sie einfach nur an mit warmem, verstehendem Blick und mit Augen voller Kraft. Erst als sie ausgeweint hatte, bot er ihr seine Hand. Zögernd legte sie ihre Hand in die seine. Ihre Finger berührten sich, faßten Vertrauen zueinander und hielten sich fest. Je länger und fester sich ihre Hände hielten, um so sicherer wußte die Frau, daß sie keine Luftballons brauchte und keine verwandelten Tränen. Sie wollte mit den Beinen auf dem Boden stehen — und eine solche Hand, die einfach nur da war und warm war und fest war.
    Ohne ein Wort zu sagen, standen die beiden plötzlich auf und gingen weiter den verschlungenen Weg in den nächtlichen Park hinein.
     

Claude Steiner/Heinz Körner
    Die Schmusegeschichte

     
    V or langer Zeit lebten die Menschen auf dieser Welt zufriedener und glücklicher als heute. Jedem wurde damals bei der Geburt ein kleiner und warmer Sack mit auf den Lebensweg gegeben. In diesem Sack befanden sich unzählige warme Schmuser, die jeder seinen Mitmenschen verschenken konnte, wann es ihm beliebte. Die Nachfrage nach diesen Schmusern war groß, denn wer einen geschenkt bekam, fühlte sich am ganzen Körper wohlig warm und liebkost.  Wenn einer ausnahmsweise einmal zu wenig Schmuser geschenkt bekam, lief er Gefahr, sich eine schlimme Krankheit einzuhandeln, die zu Verschrumpelung, Verhärtung und gar zum Tode führen konnte.
    Aber zum Glück war es damals leicht, Schmuser zu bekommen. Immer, wenn einem danach war, konnte man auf einen anderen zugehen und um einen Schmuser bitten. Der andere holte selbstverständlich einen aus seinem Sack, und sobald man sich diesen Schmuser zum Beispiel auf die Schulter gelegt hatte, fühlte man sich wohl und bekam ein rundum gutes Gefühl. Die Menschen erbaten oft Schmuser voneinander; und da sie auch freigiebig verteilt wurden, war es kein Problem, genügend davon zu bekommen. Alle Menschen fühlten sich die meiste Zeit wohl, glücklich und liebgehabt, bis eines Tages eine Hexe darüber sehr böse wurde. Sie hatte nämlich einen großen Vorrat an Tinkturen und Salben für diejenigen, die tatsächlich einmal krank wurden, doch brauchte kaum jemand ihre Mittel. Sie begann deshalb den Menschen einzureden, daß ihnen die Schmuser bald ausgehen werden, wenn sie weiter so freigiebig damit sind. Und die Menschen glaubten ihr seltsamerweise.
    Sie fingen an, über ihre Schmuser zu wachen und nicht mehr so großzügig damit umzugehen. Viele beobachteten neidisch ihre Mitmenschen, wenn diese anderen einmal einen Schmuser schenkten, wurden oft böse und machten ihnen Vorwürfe. Diese wollten ja ihren Eltern, Kindern und Partnern nicht wehtun und bemühten sich, anderen keine Schmuser mehr zukommen zu lassen. Die Kinder lernten das schnell von ihren Eltern: Sie merkten, daß es scheinbar falsch ist, seine Schmuser all denen zu verschenken, die danach Lust hatten.
    Obwohl immer noch jeder in seinem Sack genügend Schmuser fand, holten die Menschen immer
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