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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan
Autoren: Oliver Henkel
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dessen Haut ebenso tiefschwarz war wie seine eigene.
Es ist also wirklich wahr,
dachte er erleichtert.
    Dann ließ er sich, von der Last der Ungewissheit befreit, wieder in die weiche Finsternis seiner Ohnmacht zurücksinken.

20. Oktober 1862
Auf dem Atlantik
    Die junge Frau strich sich eine blonde Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst und unter dem ausladenden Hut hervorgestohlen hatte, aus der Stirn. Mit der anderen Hand hielt sie umsichtig ihren Reifrock unter Kontrolle. Immerhin konnte jederzeit ein heftiger Windstoß unter ihre Krinoline fassen und das leichte stählerne Gestell mitsamt den Unterröcken unangenehm weit anheben. Bislang war ihr diese unschöne Erfahrung erspart geblieben, wenn auch bisweilen nur arg knapp, und sie hatte auch nicht die Absicht, so kurz vor Ende der Reise durch Nachlässigkeit doch noch eine peinliche Situation heraufzubeschwören.
    Amalie von Rheine stand weit vorne auf dem Deck der
Suebia,
dort wo der Rumpf bereits schmaler wurde, um schließlich im spitzen Bug zusammenzulaufen. Blickte sie vorwärts, sah sie eine endlos scheinende graublaue, träge wogende Wasserfläche, die sich bis zum Horizont erstreckte und dann in den locker bewölkten Himmel überging. Die eigentlich zu erwartende melancholisch stimmende Illusion vollkommener Einsamkeit wollte sich trotz dieser unbegrenzten Weite nicht einstellen. Dafür sorgte schon die Silhouette eines weiteren Dampfschiffes mitsamt hoch aufsteigender schwarzer Rauchwolke in der Ferne, die Amalie daran erinnerte, dass dies kein poetisches Meer war, sondern ein höchst reales, das sich viele teilen mussten. Ein Übriges tat das Stampfen, das von der niemals ruhenden Dampfmaschine ausging; es führte Amalie ständig vor Augen, dass die
Suebia
beileibe keines der romantisch verklärten Segelschiffe alter Balladen war, sondern ein Schraubendampfer, der den Atlantischen Ozean in unglaublichen dreizehn Tagen zu überqueren vermochte. Ein Triumph der Ingenieurkunst, respektable zweihundertfünfzig preußische Fuß lang und der ganze Stolz der
Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft.
Doch gewiss kein Schiff, das zum Träumen einlud.
    Allerdings stand Amalie der Sinn ohnehin nicht nach träumen.
    Sie befand sich auf einer Reise ins Ungewisse, und je näher sie ihrem Ziel kam, desto öfter fragte sie sich, ob ihre Entscheidung nicht vielleicht doch übereilt gewesen war.
    Auch jetzt, als sie den Blick über die flachen Schaumkronen des sanft gekräuselten Meeres schweifen ließ, kamen ihr erneut Zweifel an der Richtigkeit ihres Entschlusses.
    Doch auch diesmal schob sie alle Bedenken kurzerhand beiseite und machte sich klar, dass sie natürlich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die richtige und einzig mögliche Entscheidung, wenn sie sich nicht den Rest ihres Lebens über eine verschenkte Chance ärgern wollte. Hätte sie lieber an einer trübseligen, unterbudgetierten Mädchenschule versauern sollen, wo man den Schülerinnen eine mit reichlich Handarbeiten und Hauswirtschaft garnierte armselige Halbbildung vermittelte? Dafür hatte sie nicht das Lehrerinnenseminar absolviert, nicht die vielen Hindernisse überwunden. Wenn ihr also der preußische Staat die Möglichkeit gab, an der wohl einzigen wirklich ernst zu nehmenden höheren Töchterschule des gesamten Königreiches zu unterrichten, dann akzeptierte sie dieses Angebot selbstverständlich. Auch wenn das bedeutete, der Heimat auf unbestimmte Zeit den Rücken zu kehren und über den Ozean in die fernste Provinz Preußens zu fahren. Aber trotz aller Überzeugung, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, wollte ein letzter Rest von Unsicherheit einfach nicht verschwinden.
    Grelles Kreischen riss Amalie aus ihren Gedanken. Sie schaute nach oben und sah einige Möwen, die lautstark zeternd über dem Schiff kreisten.
    Das Land konnte also nicht mehr weit sein. Amalie beobachtete die weißen Seevögel, die elegant durch die Luft glitten und dabei den rauchspeienden Schornstein ebenso umrundeten wie die drei Masten, an denen sich kein Segeltuch blähte. Nicht ein einziges Mal auf der gesamten Strecke hatte die
Suebia
wegen eines Ausfalls der Maschine Zuflucht zum Wind nehmen müssen, sondern die Fahrt ausschließlich mit der Kraft des Dampfes bestritten.
    Die Vögel ließen sich unbekümmert auf der Takelage nieder und blickten hinab auf das Schiffsdeck tief unter ihnen, vielleicht in der Hoffnung, dass der Koch die Überbleibsel des Frühstücks über Bord warf.
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