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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan
Autoren: Oliver Henkel
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ausschließlich von den zahlreichen ehemaligen Sklaven, die nach wie vor untergeordnete schwere Arbeiten verrichteten. Washington mochte als Hauptstadt des Nordens Zentrum des Kampfes gegen die Sklavenhalterstaaten des aufständischen Südens sein; doch im Bundesdistrikt selbst war die Sklaverei erst im zurückliegenden April eher widerstrebend aufgehoben worden.
    Ebenso klar war Pfeyfer, dass die feindseligen Blicke vorwiegend von den eingesessenen weißen Bürgern Washingtons ausgingen. Wenn er in seiner preußischen Uniform, die den meisten von ihnen zumindest von respektlosen Zeitungskarikaturen her bestens vertraut war, durch Washington ging, dann war er für diese Leute die Verkörperung Karolinas. Und das ließ ihn in den Augen vieler unter ihnen unweigerlich zum Objekt ihres eisigen Widerwillens, ja sogar ihres Hasses werden. Sie hatten nicht vergessen, dass Karolina einmal South Carolina gewesen war und ohne Zweifel als dreizehnter Gründungsstaat ein Teil ihrer Nation geworden wäre, hätte nicht der Bruder Friedrichs des Großen seinerzeit die aufständische britische Kolonie für Preußen in Besitz genommen, ehe sie sich dem neuen Staatenbund anschließen konnte. Zwar war die unanfechtbare Rechtmäßigkeit dieser Erwerbung in Verträgen zwischen Preußen und den Vereinigten Staaten ausdrücklich festgestellt worden, doch mit Schriftstücken und Paragraphen hatte sich noch nie eine verletzte Volksseele beschwichtigen lassen. Sogar die Unterschrift des als nahezu unfehlbar verehrten George Washington hatte daran wenig zu ändern vermocht.
    Natürlich schwanden die antipreußischen Ressentiments in Amerika dahin, je weiter diese Ereignisse in die Vergangenheit rückten. Die meisten Menschen im Norden empfanden das Stück Preußen auf amerikanischem Boden nicht mehr als Fremdkörper. Doch im Süden hielt sich noch die Ansicht, Karolina sei Diebesgut und die bloße Existenz der preußischen Provinz eine permanente Provokation. In Major Pfeyfer gewann diese Provokation gleich doppelt Gestalt. Er repräsentierte nicht nur das preußische Karolina, er war auch noch schwarz. Somit vereinte er in seiner Person in konzentrierter Form alles, was der Süden an Karolina verabscheute. Und Washington war, ungeachtet seiner Rolle als Hauptstadt des Nordens, nicht nur geographisch eine Stadt des Südens.
    Pfeyfer war gar nicht wohl in seiner Haut. Aber er ließ es sich nicht anmerken.
     
    Weder sein ungutes Gefühl noch die Eile konnten Pfeyfer davon abhalten, mit dem geschulten Blick des Berufsoffiziers seine Beobachtungen zu machen und zahlreiche Details zu registrieren. Wenn dieser Ort für ihn von Interesse war, dann wegen seiner militärisch einzigartigen Situation. Die Hauptstadt der Vereinigten Staaten war nämlich zugleich auch unmittelbare Frontstadt. Der Potomac-Fluss, an dessen nördlichem Ufer Washington lag, stellte die umkämpfte Trennlinie zwischen den aufständischen Südstaaten und der Union dar. Zwar gab es auf der gegenüberliegenden Seite des Potomac eine Reihe vorgelagerter Festungswerke, die Washington vor überraschenden Attacken der Rebellen schützen sollten; doch jenseits der Reichweite ihrer schweren Geschütze begann praktisch Feindesland. Der Präsident hatte alle Vorschläge rundweg abgelehnt, den Regierungssitz für die Dauer des Krieges nach Philadelphia oder eine andere ungefährdete Stadt des Nordens zu verlagern, da ein solches ängstliches Zurückweichen bereits einen Triumph der Rebellen dargestellt hätte. Also war Washington in einem unvergleichlichen Kraftakt mit einem Gürtel gewaltiger Fortifikationen umgeben worden, welche die Hauptstadt vor einem unerwarteten Vorstoß aus jeder Himmelsrichtung schützten und sie zugleich zur größten Festung der Welt machten, während das politische und gesellschaftliche Leben nach einer kurzen Phase des Chaos in den ersten Kriegsmonaten wieder in seine gewohnten Bahnen zurückgekehrt war. Und das, obwohl kaum mehr als eine Meile den Schreibtisch des Präsidenten vom Territorium des Feindes trennte.
    Entsprechend der Lage der Stadt bestimmte Militär das Straßenbild Washingtons, und die Pennsylvania Avenue machte davon keine Ausnahme. Im Gegenteil, sie war eine der Arterien des militärischen Transports. Nirgendwo sonst war die Präsenz der Armee augenfälliger. Lange Kolonnen maultierbespannter Versorgungswagen rumpelten vorüber, dazwischen quälten sich Batterien berittener Artillerie mit ihren Zwölfpfünder-Feldgeschützen unter den
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