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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan
Autoren: Oliver Henkel
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Libelle
gleich weiter nach New York. Ich werde Ihnen ein Schriftstück ausstellen, mit dem Sie sich legitimieren können. Und wenn der König in fünf Tagen in Friedrichsburg eintrifft, erstatten Sie ihm Bericht.«
    »Zu Befehl, Herr Oberst«, bestätigte Pfeyfer, obwohl er sich fragte, wie er diese Aufgabe zufriedenstellend erfüllen sollte. Es war nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, innerhalb von höchstens zwei Tagen ein Mordkomplott aufzudecken, sollte es denn überhaupt existieren. Doch ihm blieb nichts anderes übrig.
    Der Oberst lehnte sich zufrieden im Sessel zurück. »Dann dürfte ja alles Notwendige geklärt sein. Und Sie sind ganz sicher, dass Sie keine dieser exzellenten Zigarren möchten, mein verehrter Major Pfeyfer?«
     
    Wütend ging Pfeyfer die Marmortreppe hinab, die ins Erdgeschoss des Weißen Hauses führte. Für ihn stand fest, dass er diesen schikanös sinnlosen Auftrag Oberst von Lenschow zu verdanken hatte.
    Undenkbar, dass der König selbst auf eine so dumme Idee kommen konnte.
    So verärgert war der Major, dass er die letzten Stufen hinunterstürmte, ohne auf seine Umgebung zu achten, und am Fuß der Treppe um ein Haar mit einer Gruppe gerade vorbeikommender Männer in dunklen Gehröcken zusammengestoßen wäre. Er wollte sich rasch entschuldigen, aber ihm versagte vor Überraschung die Stimme, als er erkannte, wer da genau vor ihm stand.
    Ein Irrtum war ausgeschlossen. Dieser Mann, der seine Begleiter um einen Kopf überragte, war unverwechselbar. Nicht nur wegen des markanten, von einem dunklen Kinnbart umrahmten Gesichts. Auch nicht nur wegen der berühmten schwarzen Klappe über dem rechten Auge oder der Schlinge, die den linken Arm hielt. Nein, Pfeyfer war ihm bereits persönlich begegnet.
    »Captain Pfeyfer! Ein unerwartetes Vergnügen, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen«, begrüßte Abraham Lincoln ihn erfreut.
    Oh mein Gott, wie rede ich Ihn an?,
schoss es durch den Kopf des erstarrt stehenden Majors.
    Er war auf eine solche Situation nicht vorbereitet. Einen General, einen Angehörigen eines Fürstenhauses oder einen Universitätsprofessor protokollgemäß anzureden, das war kein Problem für ihn. Aber einen Präsidenten?
    Er wusste nur, dass er rasch einen Entschluss fassen musste, ehe er sich durch weiteres Schweigen der Peinlichkeit preisgab. Kurzerhand entschied er sich, den Präsidenten als Exzellenz zu titulieren, und hoffte inständig, damit keinen Affront hervorzurufen.
    Pfeyfer nahm Haltung an und meldete zackig: »Major Pfeyfer vom 1. Karolinischen InfanterieRegiment zu Diensten, Eurer Exzellenz!«
    Lincoln lächelte, augenscheinlich amüsiert. »Ist das nicht bemerkenswert, Gentlemen?«, fragte er seine Begleiter. »Die Hälfte meiner eigenen amerikanischen Mitbürger will mir nicht einmal den Präsidententitel zugestehen, ein preußischer Offizier hingegen nennt mich Exzellenz. Eine Anrede übrigens, an die ich mich gewöhnen könnte. Falls ich mich wirklich, wie mir meine Gegner unterstellen, zum Tyrannen aufschwingen sollte, erinnern Sie mich doch bitte daran, das Protokoll entsprechend zu ergänzen.«
    Noch während die Männer um ihn über den Scherz lachten, wandte Lincoln sich wieder Pfeyfer zu und reichte ihm die Hand, was den Major abermals verwirrte. Aber er erwiderte den kräftigen Händedruck intuitiv.
    Pfeyfer begegnete dem Präsidenten in der Tat nicht zum ersten Mal. Jahre zuvor war Lincoln als Anwalt nach Friedrichsburg gekommen, um einen aus Georgia entflohenen Sklaven vor der Auslieferung an seine sogenannten Besitzer zu bewahren. Dies war ihm gelungen, und darüber hinaus noch weit mehr. Er hatte durch brillante Argumentation dafür gesorgt, dass seither keine juristischen Spitzfindigkeiten mehr verfingen. Es gab für die amerikanischen Sklavenhalter kein Mittel mehr, von preußischen Behörden die Rückführung von Flüchtlingen einzufordern. Ein großer Erfolg, doch Lincoln hatte ihn teuer bezahlen müssen, sehr teuer. Während der Rückreise durch North Carolina waren in der Eisenbahn Maskierte über ihn hergefallen. Sie hätten ihn zweifellos zu Tode geprügelt, wären nicht beherzte Mitreisende eingeschritten. Es war den Ärzten zwar gelungen, sein Leben zu retten, nicht aber sein Auge und seinen Arm.
    Pfeyfer wusste, dass er dafür nicht verantwortlich zu machen war. Jenseits der preußischen Staatsgrenze war es ihm unmöglich gewesen, Lincoln zu schützen. Niemand hatte je einen Vorwurf gegen ihn erhoben oder auch nur indirekt
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