Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
angedeutet. Trotzdem hatte er seitdem stets einen bitteren Geschmack im Mund verspürt, wenn in Zeitungsberichten über Lincolns öffentliche Auftritte die Verletzungen beschrieben wurden.
    »Verzeihen Sie mir, dass ich Sie mit ihrem alten Hauptmannsrang angesprochen habe«, bat Lincoln. »Die Schulterstücke unserer eigenen Armee sind mir inzwischen größtenteils vertraut, doch mit den preußischen tue ich mich noch ein wenig schwer.«
    Er stellte Pfeyfer seine Begleiter vor, die sich als das beinahe komplett versammelte Kabinett der Vereinigten Staaten herausstellten. Die Minister wirkten leicht indigniert; dass im Weißen Haus ein Schwarzer anwesend war, der keine Getränke servierte oder Aborte reinigte, schien ihnen nicht zu behagen. Aber sie wären keine Politiker gewesen, hätten sie sich nicht verstellen können. Also lächelten sie höflich und deuteten mit einem wohldosierten Neigen der Köpfe Verbeugungen an, die Pfeyfer korrekt erwiderte.
    Nachdem Lincoln mit Generalpostmeister Blair das letzte Kabinettsmitglied vorgestellt hatte, bat er die Minister, schon vorauszugehen, während er noch einige Worte mit dem Besucher aus Karolina wechselte. Die Staatsmänner gingen die Treppe hinauf, augenscheinlich erleichtert, sich nicht länger mit dem ungebetenen Gast abgeben zu müssen, während der Präsident sich dem Major zuwandte: »Ich wusste, dass der Adjutant Ihres Königs einen Offizier aus Friedrichsburg erwartete«, sagt er. »Aber dass Sie es sein würden, hatte ich wirklich nicht erwartet. Kommen Sie, wir wollen uns ein wenig unterhalten, ehe ich mich der unangenehmen Pflicht einer Kabinettssitzung stellen muss.«
    »Ich fürchte, dass mir dazu die Zeit fehlt, Exzellenz«, bedauerte Pfeyfer. »Mein Schiff wartet unter Dampf im Navy Yard auf mich und ich muss zu Fuß dorthin gelangen.«
    »Zu Fuß? Aber wieso unterwerfen Sie sich denn dieser Mühe?«
    »Es ist nicht freiwillig, Exzellenz. Aber der Marineschirrmeister wollte mir kein Pferd überlassen und die Droschkenkutscher haben mich nicht mitgenommen.«
    Lincoln räusperte sich sichtlich beschämt. »Ich kann nur um Entschuldigung für das Verhalten meiner Landsleute bitten. Ich bestehe darauf, Ihnen für den Rückweg eine Kutsche aus der Remise des Weißen Hauses zur Verfügung zu stellen. Und das verschafft uns auch die Zeit für eine kleine Unterhaltung. Lassen Sie uns doch in den Garten gehen, nach einem Regen ist die Luft in diesen Räumen immer so dick wie der Kaffee eines viel zu gastfreundlichen Farmers.«
     
    Ohne Hast schritten die beiden Männer gemeinsam den Weg entlang, der in weit geschwungenem Bogen die Rasenfläche durchteilte. Um sie herum fielen in unzähligen Schattierungen von Rot und Gelb gefärbte Blätter von den Bäumen, schwebten sanft durch die Luft hinab, um lautlos im Gras zu landen. Der feuchte Kies knirschte leise unter ihren Schuhsohlen. Anfangs war Pfeyfer noch nervös und zurückhaltend; immerhin hatte er es mit einem Staatsoberhaupt zu tun, wenn auch nur einem gewählten. Doch Lincoln verstand es, ihm durch ungezwungene Offenheit und Freundlichkeit die Beklommenheit zu nehmen.
    Ehe Pfeyfer sich versah, unterhielt er sich mit dem Präsidenten wie mit einem Mann, den er schon seit Ewigkeiten kannte. Er erkundigte sich nach dem Befinden von Lincolns Familie, brachte sein Mitgefühl über den Tod dessen Sohnes William ein halbes Jahr zuvor zum Ausdruck und versuchte zu seiner eigenen Überraschung schließlich sogar, auf Lincolns humorvoll vorgebrachte Nachfrage zu begründen, weshalb er noch nicht verheiratet war.
    »Sie sollten eine Familie gründen«, riet Lincoln ihm wohlwollend. »Wenn ein einzelnes Pferd einen schweren Wagen über einen unwegsamen Pfad ziehen muss, dann richtet man damit nur das Pferd zugrunde und der Wagen kommt dennoch kaum voran.«
    »Ich empfinde mich keineswegs als einzelnes Pferd, Exzellenz«, wandte Pfeyfer ein. »Mein Leben besteht in der Erfüllung meiner Pflicht. Und dabei weiß ich mich im Bunde mit allen, die ebenso empfinden. Meine Familie ist die Armee, deren Uniform ich trage.«
    »Es ist erfreulich, dass Sie sich dessen so sicher sind«, meinte Lincoln und wich einem Holzpferd auf Rädern aus, das jemand auf dem Weg zurückgelassen hatte. Pfeyfer wusste den Unterton, der in den Worten des Präsidenten mitklang, nicht recht zu deuten. War es Zweifel, Anerkennung, Mitleid? Er war verunsichert, ohne recht den Grund dafür zu wissen.
    Unvermittelt blieb Lincoln stehen und betrachtete
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher