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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906
Autoren: Hermann Hesse
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Morgens fanden wir an der Türe des Waschsaals einen Bogen Papier
    angeheftet, auf welchem mit verstellter Handschrift mehrere
    Xenien
    ge-
    schrieben standen. Eines davon lautete:
    Hermann und Erwin, ihr passet zusammen
    wie Essig und Honig;
    Wäre der Essig nur scharf!
    wäre der Honig nur süß!
    Fünfzig Köpfe waren vor dem Papier zusammengedrängt; man las, man schalt,
    man spottete und lachte, die Getroffenen waren wohlbekannte Unbekannte.
    Am nächsten Morgen war die Türe von oben bis unten mit Xenien beklebt,
    kaum einer war verschont oder hatte geschwiegen. Ich glaube, mein Essig war
    damals scharf.
    Der Scherz dauerte einige Tage und hinterließ in mir eine erregte Bitterkeit, die ich vorher nie gekannt hatte. Ich war von mehreren empfindlich verletzt, von den Feinsten am tiefsten. Da der Xenienkrieg nicht lange dauern konnte,
    setzte sich der stumme Ärger in mir fest und verbitterte mir Arbeit, Tisch
    und Bett. Erwin hatte vor Ärger und Zorn geweint, war aber bald beruhigt,
    denn er genoß die Achtung der meisten. Mir leistete er mit rührender Treue
    Gesellschaft. Er ertrug meine Verschlossenheit so still wie die Ausbrüche meiner Wut; er gab sich sogar Mühe, die Gegner und Lacher zu besänftigen und
    von mir fernzuhalten.
    Für mich begann eine unerquickliche Zeit. Meine Verstimmung schlug völlig
    in Weltschmerz und Angstgefühl um und verdarb mir vollends allen Fleiß und
    Erfolg. Ich wurde Nächte lang von Fiebergedanken gequält oder lag wach mit
    9
    schmerzender Stirne. Erwin tröstete, gab kleine Arzneien, er schlug sogar vor, für mich beim Ephorus um Erleichterung oder Urlaub zu bitten. Manchmal,
    wenn ich mit ihm in den Eisten der alten Eiche saß, überwältigte mich mei-
    ne Liebe und Herzensnot. Dann schwieg er freundlich und legte seinen Kopf
    an meinen und umfaßte mich fest. An jenem verborgenen Ort, nach einem
    erlösenden Geständnis, gab er mir die feine Hand und schwur mir feierlich
    Freundschaft für jede Zukunft.
    An einem sonnigen Nachmittag stand ich mit ihm in der herrlichen Brun-
    nenkapelle. Das Gärtchen lag mit hellen Knospen im ersten Frühling zwischen
    den kalten Kreuzgängen. Erwin war fröhlich gestimmt und erschwerte mir ei-
    ne vertraute Mitteilung. Sie unterblieb. Ich küßte dem Erstaunten die Hand
    und ging weg, aus Kloster und Dorf, in den weiten Wald, um nicht wieder
    zu kommen. Voll von Frühling und Sehnsucht lief ich, einverträumtes und
    verängstetes Kind, in die unbekannte Welt, und seitdem habe ich das verlo-
    rene Tal mit dem dunklen Kloster nicht wieder gesehen, außer in Träumen
    warmer Frühlingsnächte.
    II
    Meine Gedanken fliehen gerne zu einem Frühling zurück, der auf meine kurze
    Klosterzeit folgte. Ich erblicke dort das verwirrende Licht junger Lauben und höre den Wind vom Park her über die großen Büsche des Jasmin und der Sy-ringen laufen. Dorthin gehört das Bild eines blassen Mädchens, das in meinem Traumschloß hängt, nebst einem verschwiegenen Kranze früher Lieder.
    An manchen Tagen, wenn ich ruhend im Garten sitze oder wenn die milden
    Gestalten der Vita Nuova wie Flüchtlinge an meinem Geist vorübergehen,
    hängt der Kranz jenes Frühlings schwer in drängender Fülle über mir, mit
    überquellenden Blütenbündeln. Mir aber blieb nur ein Hauch seines Duftes,
    ein bleiches Band und ein karger Wanderstrauß aus seiner Fülle.
    Ein Jahr später, als mein geschmücktes Boot sich vom ersten Schiffbruch
    wund erhob, kam der erste Brief des Freundes zu mir. Der Zwischenzeit und
    unsres Schweigens geschah kaum Erwähnung.
    Ungeduldiger!
    stand da,
    du hast mir hart zu tragen gegeben, und ich
    bin nicht nur ein Jahr älter geworden. Morgen verlasse ich das Kloster, das
    mir mehr als dir zum Ekel wurde. Deine Flügel hab ich nicht, aber ich habe
    die Erlaubnis der Mutter und den Befehl des Arztes. Heute nehmen viele Ent-
    sagungen für mich ein Ende – nun will ich auch dich nicht länger entbehren.
    Ein Jahr lang wechselten wir herzliche Briefe. Dann sah ich ihn wieder.
    Das war ein Sommertag im Schwarzwald. Der Abend hing rot, mit dünnen
    Nebeln, an den dunklen Bergen. Ich lag im Fenster und sog die starke Luft
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    der Höhe und der Tannenwälder. Das kleine Städtlein lag lustig unter mir mit belebten Gassen. Die Badmusik spielte in der Nähe.
    Als ich mich ins dunkelnde Zimmer zurückwandte, stand in der offenen
    Türe ruhig ein schlanker Mensch, der mich schweigend herantreten und sich
    betrachten ließ. Er war größer als
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