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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906
Autoren: Hermann Hesse
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der Baumwipfel genieße. Auch bin ich viel allein. Daß ich trotzdem
    kein Mönch oder Bücherwurm geworden bin, daran ist allein meine Mutter
    schuld. Von ihr kommt das, was ich vom Leben weiß; von ihr lerne ich täglich, was Liebe und Geduld ist; auch ist sie das schönste Bild der Gesundheit und
    rotwangigen Energie, das ich mir denken kann.
    Eine vergrößerte Ruhe fiel mir an Erwin auf. Er war von außen her nur
    schwer zu berühren und schien jetzt schon sich vom Körperlichen gelöst zu
    haben, das ihm nur Spiel und Zufall, oder Symbol und Spiegel war. Er hing
    an mir und suchte manchmal meine Hand, sie zu drücken oder zu streicheln,
    aber Empfang und Abschied geschah ohne Rührung und heftige Bewegun-
    gen oder Worte. Auch war, wenn ich eine tastende Frage seinem Leiden und
    Mitleidsbedürfnis entgegenreichte, ein glänzendes, schweigendes Anblicken aus überlegenen Augen seine einzige Antwort.
    Als ich, nur vom Diener begleitet, sein Haus verließ, stand Erwin in dem
    hohen Eckfenster seines Arbeitszimmers und bewegte die weiße Hand grüßend
    gegen mich, bis ich den Garten verließ. Als ich den Hut schwenkte und mit
    einer lebhaften Gebärde den letzten Abschied nahm, nickte er mit dem schönen Haupte freundlich, und lächelte. Ich fühlte, daß in seiner abseitigen, stillen Welt auch der kommende und gehende Freund wenig Veränderung bringen
    und keine Lücke hinterlassen konnte. Er sah uns von Sorgen und Freuden
    und Hoffnungen bewegt, welche ihm fremd und klein erschienen; wir hatten
    für sein Auge das Interesse vorbeiflügelnder, von Instinkten umgetriebener
    Vögel. Dennoch verstand er wohl, daß sein Leben für alle Gesunden, seine
    Mutter nicht ausgenommen, unmöglich und arm sein müßte, denn er sagte
    mir einmal vertraulich:
    Es ist ein Glück für mich, daß ich nicht alt werden
    kann. Ich würde, wenn ich lange lebte, einmal anfangen müssen zu leiden und
    am Ungenügen zu kranken. Auch die Kunst für sich, die meine Luft und mein
    Leben ist, bringt kein Genügen, denn sie ist andrer Art als wir Vergänglichen.
    Sie ist für uns, die wir Bäumen oder Blumen gleichen, das Licht und die
    Himmelsluft; in Wahrheit aber sind wir so geschaffen, daß wir uns mehr vom
    Erdreich nähren müssen. Das ist eben meine Krankheit, daß ich keine Wurzeln
    habe.
    Ich dachte nachher oft an diese Worte, und wenn ich an Erwin dachte,
    sah ich ihn an diesem Mangel leiden und verdorren. Er aber klagte in seinen
    seltenen Briefen nie mehr darüber. Er schrieb von seinem Befinden, berichtete 14
    über neue Kunstwerke seiner Sammlung oder über einen neuen Reiz, den er
    an älteren fand, und am liebsten pflegte er die Erinnerungen aus der frühesten Zeit unsrer Freundschaft.
    Ich sah meinen Freund zuletzt ein Jahr nach jenem Besuch. Er lag in sei-
    nem Schlafzimmer aufgebahrt, weiß in weißem Linnen, und konnte meine Ab-
    schiedsworte nicht mehr hören. Ich kniete neben der stummen Mutter wohl
    eine Stunde lang bei ihm, dann erst begrüßte sie mich im Aufstehen mit ei-
    nem Händedruck und mit einem festen, herrlichen Blick. Am nächsten Tag
    besuchte ich das Zimmer noch einmal.
    Das Licht des Nachmittags war von den halbgeschlossenen Jalousien stark
    gedämpft. Ich fand den Hals des Toten unbekleidet und sah an diesem die
    länglichen Höhlungen, die einzigen auffallenden Zeichen seiner Krankheit. Das Gesicht war nicht verändert; es war schön und adlig anzusehen mit der starken Stirne und den überzarten Augenlidern. Die Haare waren zurückgekämmt. Ich
    fuhr mit der Hand darüber, sie waren weich und angenehm zu berühren. Er
    hatte es oft geduldet, von mir so gestreichelt zu werden, wenn er müde oder
    gedankenvoll war und nicht gerne sprechen mochte. Die Hände lagen über der
    Brust, mit den hellen, edlen Gelenken. Ich erinnerte mich eines Morgens, an
    dem ich ihn in seinem Arbeitszimmer besuchte. Er stand an die Tischkante
    gelehnt, eine in Kupfer gestochene englische Landschaft betrachtend. Über das Blatt hinweg begrüßten mich seine hellen Augen mit dem wärmeren Glanz,
    den sie jedesmal vom Anblick einer Schönheit gewannen. Damals zeigte ich
    ihm lachend seine eigene Hand, an deren Daumen ein kleiner Tintenfleck war.
    Er wusch diesen sogleich ab und sagte fast betrübt:
    Wie schmutzig! Man
    sollte wahrhaftig nicht schreiben. Da hast du das, was ich unseren Fluch nen-ne, den Fluch der Dichter. Wir haben Visionen, wir besitzen Wunder und
    Schätze, aber wir haben in uns zugleich den schwer zu
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