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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906
Autoren: Hermann Hesse
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zähmenden Trieb, sie
    in schwächeren Bildern aufzubewahren, ihre Wirklichkeit zu erproben, indem
    wir sie betasten und abzuformen versuchen. Dabei gewinnen wir immer an
    Idealen und Enttäuschungen, aber auf Kosten der schönen Wesenheiten, und
    zum Schaden unserer reinen Finger.
    Ich dachte noch an andere Worte meines Freundes, an seine Art zu reden
    und zu schweigen, an seine wenigen geschriebenen Poesien, und ich litt an
    dem Gefühl eines bitteren Verlustes. Beim Anblick des schönen Kopfes ergriff mich hart das Grausame der Krankheit, welche diesem schlanken, jungen Leib
    die Blüte und Reife versagt hatte. Sein edles Herz tot, seine feinen Gedanken wie einen silbernen Faden abgeschnitten, seine reine und lebendige Phantasie erloschen zu wissen, war ein bitterer Gedanke voll Leid und voll Frage
    und Vorwurf gegen das unverständliche Schicksal. Ich ging traurig aus dem
    15
    Zimmer.
    Im Vorraum übergab mir eine Magd einen schmalen Briefumschlag.
    Von
    der gnädigen Frau .
    Ich ging aus und fand die nahe Allee menschenleer, warm und windstill.
    Ich suchte eine Bank des schattigen Seitenganges, im Gebüsch, und begann
    dort zu lesen. Der Umschlag enthielt einige Blätter, die der Tote noch in der allerletzten Zeit geschrieben hatte. Sie schienen von einem Liegenden nieder-geschrieben, dennoch war die geduldige Handschrift Erwins wenig verändert.
    Und ich las:
    Vom Krankenbett
    Wem soll ich jetzt noch dankbare Worte sagen, nachdem ich in diesen Stunden
    alle Freunde noch geliebkost und verabschiedet habe und alle Freuden, die am Rande meines kurzen Weges standen? Ich habe der Vormittage gedacht, die
    mich im Garten mit Vogelrufen und merkwürdigen Spielen der Sonne und
    des Schattens beschenkten; ich habe mich der Abende erinnert, welche die
    Freunde mir gewährten, indem sie bei mir waren und meiner Schwäche ihre
    lauteren Gewohnheiten zum Opfer brachten. Ich habe von meinen Lieblingen
    unter den Bildern und Dichterwerken Abschied genommen. Aber es ist noch
    Anhänglichkeit und Dankbarkeit für unbekannte Götter in mir; ich habe noch
    Abschiedsworte auf meiner Zunge – für wen?
    Ich will sie meiner Krankheit schenken. Sie ist meine Lehrerin gewesen.
    War sie nicht noch anhänglicher und beständiger als alle meine Freuden und
    Freunde?
    Ihr nachmitternächtlichen Stunden, da ich schlaflos still im Dunkeln lag! Ihr Schmerzen, die ihr mich von der Arbeit quältet, um mit mir zu kämpfen und
    mich an mich selbst zu erinnern! Ich gehe gerne von euch, wie das Kind gern
    eine harte Schule verläßt, aber ich denke ohne Bitterkeit an eure Strenge. Ihr lehrtet mich die gute Stunde ehren, ihr lehrtet mich Geduld und Bescheiden-sein, auch habt ihr meine wenigen Lieder durch Nachtwachen und gezwungene
    Muße am Tage reifer und besonnener gemacht. Nie habe ich mich ernster und
    tiefer bemüht, meinen Phantasien Verhältnis und reine Formen zu geben, als
    in schlaflosen Krankennächten. Meine Kunst mußte ich ringend erwerben, im
    Kampf mit Schmerz und Ermattung. Die Arbeit fiel mir hart, so habe ich
    vielleicht nie ein müßiges Wort geschrieben. Ich hatte wenig zu pflegen und
    zu schenken, aber ich tat es mit Opfern und der Liebe, deren mein wenig
    begütertes Herz fähig ist.
    Am meisten aber danke ich dir, meine Krankheit, daß du mir das Fortgehen
    so leicht machst. Du scheidest von keinem verbitterten Herzen, in deiner Schule lernte ich das Fluchen nicht.
    16
    Auch dich grüße ich noch, mein freundliches Gefängnis, du teppichbelegte
    Krankenstube! Es ist mir schwer geworden, mich in deine Enge zu bequemen,
    mit Widerstreben gab ich mich gefangen. Nun wirst du mir täglich vertrauter, und ich habe dich mit meinen liebsten Gesellschaftern geschmückt: Mein Auge
    erfreut die Sonne Claude Lorrains, mein schlanker Hermes ist mir nahe –
    Hermes Psychopompos . . .
    Dies waren die letzten geschriebenen Worte Erwins. Sein Ende war leicht und
    ruhig.
    Sein kluges Krankengesicht blickt noch oft mit glänzenden Augen in meine
    Träume und Feierabende; das Bild seines friedlichen Lebens liegt im Meere
    meiner Erinnerungen wie eine still verschlossene Insel, wenigen bekannt, licht und ohne Stürme, gekrönt vom Tempel der steinernen Götter.
    (1899)
    17
    Der Novalis
    Aus den Papieren eines Bücherliebhabers
    I
    Indem ich mich besinne, in welcher Eigenschaft ich mich dem etwaigen Leser
    dieser Notizen füglichst vorstelle, fällt mir ein, daß ich mich, dem Inhalt meines Schreibens gemäß, am besten als Bibliophile
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