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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906
Autoren: Hermann Hesse
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länger als einige Tage vor, aber ich warf mich auf jeden mit der Leidenschaft meines unbefriedigten Knabensinnes. Die Vornehmeren
    unter den Mitschülern, denen ich durch Art und Erziehung näher stand, wur-
    den durch meine lauten, ungezähmten Einfälle abgestoßen und liebten mich
    nicht; der Durchschnitt der übrigen war von Hause aus zu ungeschlacht, um
    mich anzuziehen oder zu verstehen. Mit diesen verband mich aber die erfinderische Langeweile. Ein literarischer Verein, von einigen Lesern und beginnenden Ästhetikern gegründet, schloß mich aus, der ich in ihren Büchern heimischer
    war als sie. Alle Neigungen urid Bedürfnisse, welche über dem täglichen Spiel und Umgang standen, pflegte ich allein und hielt sie als uneingestandene Lieb-habereien geheim. Denn ich fürchtete nichts so sehr als die Roheit und den
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    Spott der andern. Schiller und Shakespeare wurden früh meine Freunde. Ich
    erinnere mich der Stürme, welche mich erfaßten, als ich Schillers Jugendle-
    ben las. Die Räuber gewannen Macht über mich, so wenig ich im Grunde an
    übertriebenen Worten und an Derbheiten Genüge fand. Verse, die ich damals
    schrieb, zeigen alle Nüancen des Stils und der Stimmung, welche zwischen den Höhepunkten revolutionärer Freiheitsliebe und der uferlosen Sentimentalität
    Ossians liegen.
    In diese Zeit zurückschauend, sehe ich meine wilde, im Vaterhaus verwöhnte
    Seele voll Ungeduld und Ungenügen nach Fernen und unbekannten Freuden
    suchen, ich sehe sie eingesperrt im Glashause des Unterrichts und des streng förmlichen Lebens ihre Schmetterlingsflügel regen und sich verzweifelnd an den Wänden müde flattern. Du reiche, unverstandene Jugend! Ein älterer Freund,
    ein Stückchen Freiheit, ein Winkel Heimat hätte dir genügt, und du sehntest
    dich krank zwischen roheren Genossen und nüchternen Lehrmeistern! In diesen
    Schranken verlor ich bald meine lustige Kindlichkeit und lernte den Durst nach Wissen und Genuß, ich lernte zugleich den Weltschmerz, das Sichandersfühlen
    und die gefährlichste Seelenkrankheit, das Mitleid mit mir selber.
    Am Sonntag waren uns mehrere Stunden zu beliebiger Verwendung in unsern
    Stuben vergönnt, zum Lesen, Schachspielen, Zeichnen, Briefschreiben. Diese
    Zeit der
    stillen Beschäftigung
    ersehnte ich die ganze Woche hindurch. Dann
    saß ich über Shakespeare, über Schiller, Klopstock, Ossian und Schubart und
    sog mich satt aus den Bechern der Phantasie, der Sehnsucht und des Heim-
    wehs. Diese Stunden lagen wie ein heimliches Asyl in der Reihe unglücklicher Tage, von den Sternen der Dichter und den unbewachten Träumen meines
    Herzens überglänzt, reich an Empfängnis und Trost.
    Dazu gesellte sich die alte Freundin der Sehnsüchtigen und Heimatlosen,
    die Musik, die mich bis zur Verzückung erregte. Meine Geige am Kinn, allein
    im kalten Musikzimmer, fühlte ich manchesmal alles Harte und Häßliche sich
    von meinem Leben lösen und meinen Sinn verwirrt und beglückt von neuen
    Schönheitsgedanken. Was an frommer Empfindung in mir war, gewann Leben
    und Macht und trug mich über das Kleine und Widerliche hinüber. Meine Lie-
    be und mein Verlangen nach Freundschaft und Blicken in gütige Augen wuchs
    an diesen tröstlichen Stunden; ich rettete mich an der Musik und Dichtung
    mit umklammernden Händen empor aus der Kühle meines kargen Tages.
    Unser Kloster war von mehreren kleinen Seen umgeben. Unter diesen war
    der kleinste, ein brauner, verschilfter Waldweiher, mein Liebling. Eingefaßt von Buchen, Eichen und Erlen lag er unbewegt in ewiger Windstille dun-4
    kel im breiten Schilfgürtel, überhängende Äste und ein rundes Stück Himmel
    spiegelnd. Ein verwildernder Weg war das halbe Jahr von braunem Eichlaub
    bedeckt.
    Dort lag ich an einem Sonntag allein in der Nachmittagssonne. Der Blät-
    terfall hatte begonnen. Die dürren Binsen klirrten zitternd, über der ferneren Waldecke hing der dunkle Habicht. Zuweilen flog ein einzelnes welkes Blatt,
    sich im Falle drehend, lautlos in den schmalen Wasserspiegel. Zuweilen flog
    eines neben mir ins fahle Moos. Das sumpfige Ufer atmete in der Sonne einen
    leichten Geruch von Moder und Fäulnis aus. Lange, verdorrte Gräser standen
    in den tiefen Radgleisen des verfallenden Uferwegs.
    Ich lag müde ausgestreckt, das Kinn auf den Händen, im Auge und im Her-
    zen die Stille und Wildnis dieses Herbstes. Ich wünschte so abseits und ungekannt lange zu liegen und mich in der schwermütigen Müdigkeit des Waldes
    und Schilfes
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