Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die erste Todsuende

Die erste Todsuende

Titel: Die erste Todsuende
Autoren: Lawrence Sanders
Vom Netzwerk:
gesprochen. Einmal hatte er eine dunkle, massige Gestalt gesehen, die sich schwerfällig von ihm fortbewegte und immer kleiner wurde. Und einmal hatte er wie ein Ballettänzer beim Pas de deux die Arme um einen Mann geschlungen, doch dann hatte sich alles in milchigem Weiß aufgelöst, ehe der hoch erhobene Eispickel zuschlug.

    Aber auch diese Visionen, alle Visionen, schwanden, und es blieb nichts als eine große leere Leinwand. Bisweilen trieben weiße Plättchen durch sein Blickfeld, segelten dahin und entschwebten.
    Es war hübsch, sie zu beobachten, und doch war er froh, wenn sie wieder fort waren.
    Immer weniger nahm er von der Wirklichkeit wahr, doch ehe die Schwäche seinen Geist überwältigte, spürte er, wie seine Erkenntnis immer mehr wuchs, obwohl seine Sinne erlahmten. Ihm war, als habe er die Welt des Fühlens, des Schmeckens, des Riechens und des Hörens hinter sich gelassen, als sei er für immer eingetreten in diese liebliche Reinheit mit ihrem himmlischen Gesumm -eine Welt, in der alles wahr und nichts falsch war.
    Dankbar und voller Entzücken erkannte er jetzt, daß dem Leben eine Logik innewohnte, und diese Logik war wunderschön: nicht die starre Logik der Computer, sondern die unberechenbare Logik von Geburt, Leben und Tod. Es war die Sterblichkeit des einzelnen und die Unsterblichkeit aller. Das Leben umfaßte alles, die beseelten wie die unbeseelten Dinge, und alles war eins in dieser summenden Weiße.
    Es war ein berauschendes Gefühl, dies zu erkennen und zu begreifen, endlich, daß er Teil des Schlammes und Teil der Sterne war. Es gab keinen Daniel Blank, keinen Teufelszahn, hatte sie nie gegeben. Es gab nur das ewige Fortdauern des Lebens, wo Menschen und Steine, Schlamm und Sterne und Saatkörner waren, die einen Augenblick wuchsen und dann wieder zurücksanken in jenes zeitlose Ganze, das ewig begann und ewig endete.
    Es betrübte ihn, daß er diese letzte Einsicht nicht anderen Menschen mitteilen konnte, daß er niemandem das Furchtbare und Erhabene dieser Gewißheit beschreiben konnte, die er gefunden hatte: ein Universum, das ein Zufall und eine Möglichkeit war, ein Universum, wo ein Wassertropfen nicht weniger zählte als ein Mond, eine Leidenschaft nicht mehr als ein Sandkorn. Alle Dinge waren nichts, aber ein jedes war alles. In seinem Delirium konnte er diesen Widerspruch an sein Herz drücken, zärtlich umfangen und als Wahrheit erkennen.
    Er spürte, wie das Leben in ihm verebbte - er fühlte es. Gelinde schwand es dahin - nicht anders als ein unsichtbarer Hauch, der von seinem geschwächten Körper aufstieg - und wurde wieder Teil jener großen Einheit, aus der es gekommen war. Er starb langsam, und er starb gern, denn er ging über in eine andere Form. Sein Sterben vollzog sich so sanft, daß er darüber nachsinnen konnte, warum die Sterbenden oft schrien und kämpften.
    Die weißen Plättchen erschienen wieder, trieben an ihm vorüber. Er meinte, etwas Feuchtes in seinem Gesicht zu spüren, ein flüchtiges Prickeln, und er überlegte, ob er wohl vor Freude weinte.
    Es war nur Schnee, aber er wußte es nicht. Und der Schnee deckte ihn langsam zu, legte sich lindernd auf seine zerschundene Haut und verbarg die geschwollenen Gelenke und seine weit geöffneten Augen.
    Als es bei Morgengrauen aufhörte zu schneien, wölbte sich ein kleiner Hügel oben auf dem Teufelszahn. Sein Leichentuch war weiß, war unbefleckt.

    Am späten Abend des 5. Januar traf Captain Delaney mit Major Barnes, Chief Forrest, Captain Sneed, der Besatzung des Hubschraubers von der State Police und dem Cheffunker zusammen. Sie alle drängten sich in der Blockhütte des Parkwächters. Vor der Tür stand ein Wachtposten, der neugierige Reporter fernhalten sollte.
    Major Barnes hatte einen detaillierten Plan vorbereitet und verteilte Durchschläge an alle Anwesenden.
    „Ehe wir darangehen, Nägel mit Köpfen zu machen", sagte er, „hier die letzte Wettervorhersage. Gegen Mitternacht beginnender Schneefall, der gegen Morgen nachlassen soll. Schneedecke drei bis fünf Zentimeter. Temperatur ein bis zwei Grad unter Null. Morgen vormittag Bewölkungsauflockerung und leichter Temperaturanstieg. Aber gegen Mittag, zwischen elf und eins, geht der Mist dann richtig los. Temperatursturz, Schnee, mit Regen und Hagel vermischt, und starker Wind, bis zu Sturmböen."
    „Wunderbar!" sagte einer der Piloten. „So hab ich's gern."
    „Also bleiben uns", fuhr Barnes, ohne ihn zu beachten fort, „fünf bis sechs
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher