Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman
Autoren: Marc Levy
Vom Netzwerk:
selbst in Gefahr bringen? Sie müssen von hier verschwinden. Sie haben so schon genug Schaden angerichtet.«
    »Welchen Schaden?«
    »Haben Sie nicht gesagt, Ihr Unfall sei gar kein Unfall gewesen? Warum, glauben Sie, führe ich Sie vom Kloster weg? Ich kann niemandem mehr vertrauen. Diejenigen, die es auf Sie
abgesehen haben, werden es ein zweites Mal versuchen, wenn Sie ihnen die Möglichkeit dazu bieten. Sie verhalten sich nicht eben diskret, und ich fürchte, Ihre Anwesenheit hier ist nicht unbemerkt geblieben, alles andere käme einem Wunder gleich. Möge es so lange andauern, bis Sie Ihr Flugzeug in Beijing erreicht haben.«
    »Ich gehe nirgendwohin, bevor ich Keira nicht gefunden habe.«
    »Vorher hätten Sie sie beschützen müssen, jetzt ist es zu spät. Ich beschwöre Sie noch einmal, gehen Sie!«
    »Geben Sie mir einen Hinweis und sei er noch so klein, eine Spur, die ich verfolgen könnte, und ich verspreche Ihnen, vor Tagesanbruch verschwunden zu sein.«
    Der Mönch mustert mich durchdringend, schweigt aber. Dann wendet er sich ab und kehrt zum Kloster zurück, und ich folge ihm. Als wir den Hof erreicht haben, begleitet er mich zu meiner Kammer.
     
    Es ist längst helllichter Tag, die Zeitverschiebung und die anstrengende Reise haben mich völlig entkräftet. Es muss schon bald Mittag sein, als der Lama mit einer Schale Reis und einer Bouillon auf einem Holztablett in mein Zimmer tritt.
    »Wenn man mich dabei überraschte, wie ich Ihnen das Frühstück am Bett serviere, würde man mir mit Sicherheit vorwerfen, diesen Ort des Gebets in ein Bed and Breakfast umwandeln zu wollen«, sagt er und lächelt. »Hier eine kleine Stärkung, bevor Sie aufbrechen. Denn Sie machen sich ja heute auf den Weg, nicht wahr?«
    Ich nicke. Sinnlos, auf irgendetwas zu beharren, ich würde nichts mehr bei ihm erreichen.
    Als ich die Schale mit der Brühe zum Mund führen will, entdecke ich ein doppelt gefaltetes Stück Papier darunter. Instinktiv
lasse ich es in meine Hand gleiten und diskret in meiner Tasche verschwinden. Sobald ich mein kleines Mahl beendet habe, ziehe ich mich an. Ich sterbe vor Ungeduld zu lesen, was der Lama mir geschrieben hat, doch zwei seiner Schüler warten bereits vor meiner Tür und führen mich zu meinem Wagen.
    Bevor sie umkehren, überreichen sie mir ein Päckchen, das in Packpapier gewickelt und mit einer Hanfschnur verknotet ist. Als ich am Steuer sitze, warte ich, bis die Mönche sich entfernt haben, um den für mich bestimmten Text zu lesen.
    Wenn Sie nicht bereit sind, meinen Empfehlungen zu folgen, so nehmen Sie zur Kenntnis, dass mir Folgendes zu Ohren gekommen ist: Ein junger Mönch soll wenige Wochen nach Ihrem Unfall ins Kloster Garther eingetreten sein. Das hat möglicherweise nichts mit Ihrer Suche zu tun, es kommt jedoch recht selten vor, dass dieses Kloster neue Schüler aufnimmt. Selbiger scheint, wie ich gehört habe, nicht sehr glücklich über seinen religiösen Rückzug zu sein. Niemand kann mir sagen, wer er ist. Sollten Sie beschließen, diese unvernünftige Suche fortzusetzen, dann fahren Sie nach Chengdu. Dort angekommen, lassen Sie Ihren Wagen zurück. Die Gegend, in die Sie weiterreisen, ist sehr arm, und Ihr Jeep würde die Aufmerksamkeit auf Sie lenken, worauf Sie sicher gerne verzichten. In Chengdu legen Sie die Kleider an, die ich Ihnen habe aushändigen lassen, sie werden es Ihnen erleichtern, sich unter die Talbevölkerung zu mischen. Nehmen Sie einen Bus in Richtung Berg Yala. Ich weiß nicht, was ich Ihnen danach raten soll, denn es ist einem Ausländer unmöglich, das Kloster Garther zu betreten, doch, wer weiß, vielleicht haben Sie ja Glück.
    Seien Sie vorsichtig, Sie sind nicht allein. Und vor allem: Verbrennen Sie dieses Papier!
    Achthundert Kilometer trennen mich von Chengdu, ich werde neun Stunden für die Fahrt brauchen.
    Die Nachricht des Lama lässt mir wenig Hoffnung. Er könnte diese Zeilen aber auch mit dem einzigen Ziel geschrieben haben, mich von seinem Kloster fernzuhalten, obwohl ich bezweifele, dass er zu einer solch grausamen Lüge fähig ist. Wie viele Male werde ich mir diese Frage auf der Fahrt nach Chengdu stellen …
    Zu meiner Linken wirft die Bergkette ihre geisterhaften Schatten bis weit in das graue und staubige Tal. Die Straße führt in westlicher Richtung durch die Ebene. Vor mir tauchen die Schornsteine von zwei Hochöfen auf.
    Liuzhizhen - Steinbrüche, finsterer Himmel über Minenfeldern, Ruinen verlassener Fabriken, Landschaft
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher