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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman
Autoren: Marc Levy
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man sie zurückdrehen könnte, dann hin zu jenem Augenblick …
    Ich bin an den Ort zurückgekehrt, an dem ich diesen Wunsch im Stillen geäußert habe, vor diesem weißen Rosenbusch an einem Weg im Jingshan-Park. Doch die Zeit ist nicht stehen geblieben.
    Ich betrete die Verbotene Stadt durch das Nordtor. Ich lasse mich allein von Erinnerungen leiten.
    Ich suche eine Steinbank neben einem großen Baum, wo vor nicht allzu langer Zeit ein betagtes chinesisches Paar Platz genommen hatte. Wenn ich die beiden wiedersähe, würde mir das vielleicht eine gewisse Linderung verschaffen. Ich hatte in ihrem Lächeln die Verheißung einer glücklichen Zukunft für uns beide gesehen. Vielleicht lachten sie aber nur über das Schicksal, das uns erwartete.
    Schließlich finde ich die Bank, sie ist leer. Ich strecke mich darauf aus. Der Wind spielt mit den Zweigen einer Weide, ihr träger Tanz wiegt mich sanft. Als ich die Augen schließe, erscheint dein Gesicht unversehrt vor mir, und ich schlafe ein.
    Ein Polizist weckt mich und bittet mich, die Verbotene Stadt zu verlassen. Bei Einbruch der Nacht sind Besucher nicht mehr erwünscht.
    Zurück im Hotel, betrete ich mein Zimmer. Die Lichter der Stadt verdrängen das Dunkel. Ich ziehe die Decke vom Bett, breite sie am Boden aus und rolle mich hinein. Die Scheinwerfer der Autos zeichnen sonderbare Motive an die Wände. Wozu noch mehr Zeit verlieren? Ich werde nicht schlafen können.
    Ich nehme mein Gepäck, begleiche die Rechnung an der Rezeption und hole meinen Leihwagen vom Hotelparkplatz.
    Das Navigationsgerät zeigt mir den Weg nach Xi’an. Wenn
ich mich den Industriestädten nähere, weicht die Nacht und taucht erst wieder weit hinter den Außenbezirken auf.
    Ich halte in Shijiazhuang zum Tanken an, ohne etwas zum Essen zu kaufen. Du würdest mich einen Feigling nennen, und vielleicht hättest du damit nicht unrecht, doch ich habe keinen Hunger und warum das Risiko eingehen?
    Hundert Kilometer weiter entdecke ich das kleine verlassene Steindorf auf dem Hügel. Ich biege in den holprigen Feldweg ein, ich möchte von dort aus die Sonne über dem Tal aufgehen sehen. Es heißt, Orte bewahren die Erinnerung an die Momente, die Liebende dort verbracht haben. Das ist vielleicht nur ein Hirngespinst, doch an diesem Morgen habe ich das starke Bedürfnis, daran zu glauben.
    Ich laufe durch die geisterhaften Gassen, dann vorbei an der Tränke auf dem Dorfplatz. Die Schale, die du in der Ruine des alten konfuzianischen Tempels gefunden hast, ist verschwunden. Du hast es vorausgesagt, jemand würde sie mitnehmen und damit tun, was ihm gut scheint.
    Ich hocke mich auf einen Felsen und warte auf den Tagesanbruch; der glühende Sonnenball ist gewaltig. Ich setze meinen Weg fort.
    Die Luft in Linfen ist genauso ekelerregend wie auf der ersten Reise und so verschmutzt, dass mir die Kehle brennt. Ich ziehe das Baumwolltuch aus der Tasche, aus dem du uns einen Mundschutz gebastelt hast. Ich habe es unter den Sachen gefunden, die mir nach Griechenland nachgeschickt wurden. Keine Spur von deinem Geruch, doch als ich es über Mund und Nase binde, sehe ich jede deiner Gesten vor mir.
    Bei der Fahrt durch Linfen hast du dich beschwert:
    Grauenvoll, dieser Gestank …
    Aber alles war dir ein Vorwand zu schimpfen. Wie gerne würde ich jetzt noch deine Sätze hören.

    Als du in deiner Tasche nach diesem Tuch gesucht hast, hat dich etwas in den Finger gestochen, und du hast die versteckte Wanze entdeckt. An diesem Abend hätte ich den Entschluss fassen müssen umzukehren. Wir waren nicht vorbereitet auf das, was uns erwartete, wir waren keine Abenteurer, nur zwei Wissenschaftler, die sich wie leichtsinnige Kinder verhalten haben.
    Die Sicht ist immer noch schlecht, und ich muss diese negativen Gedanken vertreiben, um mich besser auf die Straße konzentrieren zu können.
    Ich weiß noch genau, wie ich hinter Linfen in einer Parkbucht angehalten habe, mich damit begnügte, die Wanze aus dem Fenster zu werfen, ohne mir der Gefahr, die sich dahinter verbarg, bewusst zu werden und nur mit diesem Eindringen in unsere Intimsphäre beschäftigt. Genau in diesem Augenblick habe ich dir gestanden, dass ich dich begehre, und gleichzeitig - mehr aus Scham denn aus Koketterie - abgelehnt, dir all das zu sagen, was ich an dir so liebe.
    Ich nähere mich unserer Unfallstelle, dem Ort, an dem uns die Mörder in den Abgrund gedrängt haben, und meine Hände beginnen zu zittern.
    Du solltest ihn überholen
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