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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Autoren: Jessica Grant
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wartet. Und wenn ich mich einfach weigere, nach Hause zu fahren. Und mich an den Couchtisch kette. Vielleicht klappt es dann.
    Aber damit wäre ihm nicht geholfen. Ich kann ihm nur helfen, wenn ich gehe.
    Genau wie mein Dad. Auch mein Dad fuhr wieder nach Hause, nachdem er Onkel Thoby zu Hilfe gekommen war. Er fuhr wieder nach Hause und überließ es Onkel Thoby, wann er kommen wollte. Wir mussten warten.
    Ich öffne das Außenfach meiner Tasche und hole den Zettel hervor, den ich aus St. John’s mitgebracht habe. Ich lege ihn auf den Couchtisch, mit der Skizze nach oben.

     
    E s gibt verschiedene Stufen von erfunden. Die Onkel-Thoby-Biografie von meinem Dad kommt mir vor wie eine Montage, die wir uns zusammen ausgedacht haben. Sie war erfunden. Aber sie war auch wahr. Sie war schnell und wahr und wild gemischt. Es gibt kein Bein- und Arm-Rekonstruktions-Centrum in Penzance. Aber es gibt Palmen und Schnee. Und herzensgute Piraten. Penzance ist nicht nur eine Biografie. Nicht nur eine Operette. Sondern echt.
    Mir ist schon recht früh klargeworden, dass Onkel Thobys Arm nicht erfunden war. Es war zwar nicht wahr, dass er einen Teil seiner selbst verloren und eigenhändig rekonstruiert hatte. Aber wahr war es doch. Nach vielen Abstürzen und Rückfallen hatte er sich mit Müh und Not wiederhergestellt.
    Lassen Sie mich ein wenig in Erinnerungen schwelgen. Walter, Onkel Thoby und Oddly sitzen auf unserer Rundumveranda. Es ist September, und die Sonne hat sich längst der anderen Erdhalbkugel zugewendet. Es ist kühl, aber nicht so kühl, dass man sich nach dem Abendessen nicht auf die Veranda setzen und im schwindenden Licht genüsslich ein Stück Piety Pie verdrücken könnte. Es weht kein Wind. Nur eine Mücke schwirrt. Meinen Dad hat sie bereits gestochen. Er hat sie weggewischt. Auch mich hat sie bereits gestochen, was ich jedoch erst bemerke, als der unwiderrufliche Beweis an meinem Knöchel nicht mehr zu übersehen ist. Mist. Ein Mückenstich.
    Jetzt schwebt sie über Onkel Thobys Schulter wie ein Exponent. Er sieht sie an. Sie sieht ihn an. Sie landet auf seinem Arm. Seinem linken Arm, sieh.
    Derweil bin ich damit beschäftigt, die Mitte zwischen dem 14. Juli und dem 10. September zu berechnen. Ich zähle sie an den Fingern ab.
    Gleich werde ich den Doozoo erfinden.
    Und ich beobachte die Mücke auf Onkel Thobys Arm. Die er natürlich nicht erschlägt. Er lässt sich von ihr stechen.
    Mein Dad sagt: Wie Donnes Floh.
    Wessen Floh, frage ich.
    Vergiss es.
    Und in diesem Moment begreife ich, dass Onkel Thobys Arm aus Fleisch und Blut ist, weil ihn eine Mücke sticht. Ich weiß, dass wir in der Mücke wild gemischt sind. Ich weiß, dass wir im zwölften August wild gemischt sind. Trotzdem habe ich kein Aha -Erlebnis. Ich springe nicht von meinem Stuhl und rufe: Beim Jupiter, ich hab’s! Ich hab’s kapiert. Denn was man schon weiß, kann man auch nicht kapieren, selbst wenn man nicht weiß, dass man es weiß.
     
    Der Zug fährt in den Bahnhof von St. Erth ein, und da steht er, an die gelbe Backsteinmauer gelehnt. Als wäre keine Zeit vergangen. Ich ziehe mein Fenster herunter. Toff.
    Er hebt die Hand.
    Steig ein.
    Er steigt ein. Lässt den Blick durch den leeren Waggon schweifen.
    Er ist noch nicht so weit, sage ich.
    Verstehe. Aber sonst ist alles Ordnung.
    Mehr oder weniger.
    Er setzt sich mir gegenüber. Rückt sein Halstuch zurecht.
    Hast du da draußen übernachtet, frage ich.
    Auf dem nackten Erthboden, sagt er und lächelt. Nein. Ich habe den letzten Zug abgewartet und mir dann eine Pension gesucht.
    Ah. Gut.
    Der Zug fährt wieder an. Ein Sonnendreieck erscheint auf dem Tisch.
    Ich habe dir eine Schneekugel mitgebracht, sage ich.
    Wie nett.
    Palmen und Schnee.
    Ja. Sehr schön.
    Danke, Toff.
    War mir ein Vergnügen.
    Weißt du, wofür ich dir danke.
    Blick aus dem Fenster: Ja.

Epilog
     
    SCHLIESSLICH UND ENDLICH
     
    E ine kalte Mainacht, und wir sind auf dem Weg zum Flughafen. Sie hat uns dreimal ermahnt, uns keine allzu großen Hoffnungen zu machen. Judd nimmt sich noch ein Pfefferminz aus dem Schälchen auf dem Armaturenbrett und fragt, was denn dagegen spräche, sich Hoffnungen zu machen. Ich wende den Kopf und sehe ihn an. Das Licht des GPS-Monitors färbt sein Gesicht fahlgrün. Wir sind früh dran, sagt er.
    Audrey sagt: Zum Glück. Ich bleibe nämlich jedes Mal in der Drehtür stecken. Und das kann dauern.
    Stimmt. An dem Tag, als ich hier ankam, steckten wir geschlagene zehn Minuten in der
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