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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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noch größeres Vergnügen aber macht mir die Lektüre der Kladden mit meinen Reise-Notizen. Seltsamerweise ähneln die Eintragungen den Notizen meiner Mutter auf ihren Zetteln, sie sind jedoch eine Spur privater und emotionaler und enthalten allerhand erstaunte Ausrufe und Deklamationen, als hätte ich während dieser Reisen dann und wann einen Lyrik-Anfall bekommen: Schloss Vollrads im Rheingau, 13. September 1969, 19 Uhr: Wenn ich doch hoch oben, im alten Turm des Schlosses, wohnen dürfte! Wenn ich hinabsehen könnte, bis zum Rheintal und seinen Auen und Inseln! Ich würde Hymnen schreiben, Hymnen, die staunen machen!
     
    Wenn ich so etwas lese, muss ich grinsen, was war ich vor meiner Rom-Zeit bloß für ein merkwürdig verspanntes Subjekt! Unaufhörlich hat sich dieses Subjekt Notizen gemacht, die Kladden machen sogar den Eindruck, als sei dieses Subjekt kein Pianist, sondern eher ein junger, romantischer Dichter, der halb Deutschland auf der Suche nach neuen Versen durchquert.
    Die Musik dagegen kommt nur selten und meist nur in Zusammenhang mit dem Namen Schumann vor, manches Mal hat es sogar den Anschein, als halte sich der junge, unentwegt hymnisch deklamierende Dichter für eine Nachgeburt dieses über die Maßen verehrten Komponisten: Abends in Bacharach, Schumann-Stunde. Eine dunkle, leichte Zigarre, fünf Gläser Rheinwein, ein verstimmtes Klavier. Spielte etwas aus den »Davidsbündlertänzen«, die mir sehr gut gelangen …
     
    Trotz ihrer Verspanntheit und ihres Überschwangs erregen mich diese Notizen. Irgendetwas Dunkles, Feuriges steckt in ihnen, irgendetwas wirkt weiter auf mich. Hätte ich bloß auf die überdrehten Partien verzichtet, und hätte ich meinen Gefühlen bloß nicht derart oft unkontrolliert Raum gelassen: As-Dur, das ist die zärtlichste, aber auch traurigste Dur-Tonart überhaupt! … Beethoven und Schubert haben in As-Dur gedichtet!
     
    Ich ertappe mich dabei, wie ich ganze Passagen dieser Notizbücher umschreibe. Ich lege neue Kladden an und komponiere die Eintragungen zu kleinen Erzählungen. Die hymnischen Deklamationen lasse ich weg und vermeide überhaupt allzu stark Emotionales. Das Emotionale soll nicht benannt werden, aber auch nicht verschwinden, es soll unter der Oberfläche erscheinen – so will ich es jetzt: Mainz, 17. Dezember 1969. Am Rhein. Um den Vollmond fliegen Wolkenfetzen, die sich sofort wieder zerstreuen. Die fahle Himmelsdecke ist an einigen Stellen weit aufgerissen, ich kann die leuchtenden Sterne erkennen. Auf einem vorbeifahrenden Lastschiff flattern Wäschestücke an einer Leine, eine Tür ist so weit geöffnet, dass der Lichtschein auf ein neben der Wäsche stehendes Fahrrad fällt …
     
    Das alles sind Spielereien, nicht mehr, ich vertreibe mir mit ihnen die Zeit und komme mir vor wie ein Lehrer, der die Notizen seines Meisterschülers korrigiert und in eine erträgliche Fassung bringt. Insgeheim aber bin ich dabei, dem jungen Mann, der ich war, eine andere, zweite Geschichte zu schreiben. Diese Geschichte ist durch die Rom-Zeit geprägt, und sie macht aus dem euphorischen jungen Subjekt, das ganz Deutschland wie ein junger Schumann bereist, eine gebrochene, melancholische Erscheinung, die weder ein Projekt noch sonst eine Zukunfts-Idee hat. Stattdessen reist sie, sie reist unentwegt, ihr ganzes früheres Leben ist nichts als Reisen und Unterwegs-Sein.
     
    Mitten in diesen Spielereien werde ich durch einen Anruf von Walter Fornemann aufgeschreckt, der sich angewöhnt hat, ab und zu mit meiner Mutter zu telefonieren. Sie sprechen über französische Literatur und Musik, Fornemann empfiehlt bei solchen Gelegenheiten neue Schallplatten oder macht Vorschläge für Konzertbesuche in Köln, meine Mutter hört sich das an, ohne je daran zu denken, einem solchen Vorschlag zu folgen.
    Diesmal erwähnt sie meine Rückkehr aus Rom, die sie vor Fornemann erst noch eine Weile geheim gehalten hat. Er will mich sofort sprechen, und da Mutter sich nicht zu helfen weiß, holt sie mich an den Apparat. Ich sage kaum ein Wort, ich wirke auf Fornemann erschreckend schweigsam , natürlich wittert er sofort, dass in Rom mit mir etwas geschehen ist. Was ist in Rom geschehen, Johannes?, fragt er gleich mehrmals, und ich weiche zweioder dreimal aus. Ich frage Dich zum letzten Mal, was ist in Rom geschehen? , sagt er schließlich mit besonderem Nachdruck.
    Da antworte ich endlich: Es ist aus, ich spiele nicht mehr Klavier, ich bin gescheitert. Als Fornemann das hört,
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