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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Zimmer aus nicht sehen, nein, es ist viel zu dunkel. Ich kauere mich auf den Boden, ich drehe mich dem Fenster des Esszimmers zu, da sehe ich meine Eltern.
     
    Meine Mutter und mein Vater sitzen einander gegenüber, sie essen zusammen zu Abend, es stimmt. Meine Mutter trägt ein dunkelgrünes Kleid und eine Halskette mit kleinen, glänzenden Perlen, ihre langen Haare sind offen, wie ich es noch selten so bei ihr gesehen habe. Mein Vater trägt ein weißes Hemd mit bis zum Unterarm hochgekrempelten Ärmeln und schwarze, breite Hosenträger. Auf dem Esstisch brennt ein Leuchter mit drei Kerzen, ich erkenne eine Flasche Rotwein, ich höre, dass mein Vater spricht, verstehe aber kein Wort.
     
    Als ich meine Eltern sehe und wiedererkenne, weiß ich von einem auf den andern Moment, was ich tun werde: Ich werde mein Elternhaus nie mehr verlassen, nein, nie mehr, ich werde von nun an zusammen mit meinen Eltern leben und mich nie mehr von ihnen entfernen. Nichts anderes werde ich tun, als genau das, nichts anderes, ich werde weder studieren noch einen Beruf anstreben, ich werde überhaupt nichts anstreben, ich werde zusammen mit meinen Eltern leben. Wie hatte ich überhaupt den großen Fehler begehen können, sie zu verlassen? Mich über zwei Jahre von ihnen zu trennen? In Rom ein anderes Leben zu suchen, ein Leben ohne meine Eltern?
     
    Es ist doch ganz einfach und klar, ich gehöre zu ihnen, und sie gehören zu mir. Zusammen bestehen wir das Leben, zusammen haben wir keine Angst, zusammen nehmen wir es mit allen Gefahren auf.
     
    Ich atme durch und erhebe mich, ich spüre plötzlich, dass es mir besser geht und dass es mir jetzt leichtfällt, mich bemerkbar zu machen. Ich habe den Weg nach Hause gefunden, ich habe zurückgefunden, das ist es, ja, genau, ich kehre nun dorthin zurück, wo ich meine Kindheit verbracht habe und wohin ich gehöre. Ich gehöre nicht nach Rom, ich gehöre auch nicht an einen anderen Ort, nein, ich gehöre genau an diesen Esstisch vor meinen Augen!
     
    Ich streiche mit der rechten Hand über die Kleidung und glätte sie ein wenig. Dann fahre ich mit beiden Händen durch meine langen Haare. Ich strecke mich, ich atme noch einmal aus, dann tue ich einige Schritte aus dem Dunkel der Eiben nach vorn und klopfe vorsichtig gegen die Scheibe.
     
    Ich sehe, wie mein Vater sich umdreht, dann sehe ich, dass mich meine Mutter auf den ersten Blick, jäh, erkennt. Ich rühre mich nicht, niemand rührt sich, da höre ich meine Mutter: Johannes! Mein guter Junge!
     
    Ich sehe, dass mein Vater aufsteht und mich durch die Scheibe anstarrt, ich sehe, dass er noch nicht ganz sicher ist, ob diese Erscheinung wirklich sein Sohn ist. Er schaut nach, ich spüre genau, wie er mich mustert, dann aber sehe ich, wie sein schönes, ernstes Gesicht sich in ein Lächeln verwandelt. Mein Vater lächelt mich an, ja, ich sehe, wie meinen Vater eine regelrechte Freudenwelle durchfährt. Er greift sich verlegen an die Stirn, er weiß vor Aufregung gar nicht, wohin mit den Händen, dann aber höre ich ihn lachen, immer lauter, ich höre meinen Vater ein so lautes Begrüßungslachen lachen, dass dieses Lachen bis nach draußen schallt.
    Meine Eltern machen sich nun beide auf den Weg zur Haustür, als ginge es für jeden von ihnen darum, als Erster dort anzukommen. Ich umrunde das Haus und höre, wie die Haustür von innen aufgeschlossen wird. Klickklickklack, dreimal wird der Schlüssel umgedreht, ganz wie früher. Ich komme nun auch vor der Haustür an, ich bin angekommen, ich bin wieder zu Hause.

44
     
    WOCHEN SPÄTER führe ich ein Leben wie vor meinem Aufbruch nach Rom. Die einzigen Unterschiede bestehen darin, dass ich kein Klavier mehr übe und nicht mehr jeden Tag nach Köln zum Gymnasium fahre. Ich übernachte in meinem früheren Zimmer oben unter dem Dach, ich habe die alten Bücher um mich und lese manchmal ein wenig in ihnen, meine Schallplatten habe ich ins Blockhaus meines Vaters gebracht und sie in seine Schallplattensammlung einsortiert.
    Eine regelmäßige Arbeit habe ich nicht, und meine Eltern drängen mich auch nicht, eine solche Arbeit zu suchen. Im Gegenteil, meine Mutter hat sich für eine längere Pause ausgesprochen, und mein Vater meint ebenfalls, dass ich nichts überstürzen, sondern erst wieder ganz gesund werden solle.
     
    Ich trage weiter eine Bandage an der rechten Hand und fahre ab und zu in die Kölner Universitätskliniken, um mich dort untersuchen zu lassen. Der zuständige Arzt legt mir
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