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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Kapelle rechts der Chiesa Santa Maria del Popolo hat der Maler Pinturicchio welche Szene gemalt?
    Rom ist ein großes Puzzle, das ich wie in einem Spiel mit wechselnden Schwierigkeitsgraden zusammensetze. Ich spreche darüber mit niemandem, es ist ein Spiel, das ich brauche, um die stets latente Trauer nicht allzu mächtig werden zu lassen.
     
    Meinen Eltern erzähle ich von meinen römischen Lehrern und Freunden, von meinen Konzerten und Auftritten. Für Mutter sind diese Erzählungen ein Pendant zu ihren Vorlesestunden, während mein Vater sich meine Geschichten still anhört, als warte er insgeheim noch auf einen besonderen Clou. Manchmal vermute ich, dass meine Eltern mir die Liebe zu Clara anmerken, diese große Lücke in meinen Geschichten muss doch spürbar sein, niemand von ihnen fragt mich aber nach einem solchen Thema.
    Ich vermute, dass ein solches Nachfragen in Mutters Fall mit einer starken Eifersucht verbunden wäre. Diese Eifersucht ist nämlich bereits zu spüren, wenn ich nur kurz Signora Francesca erwähne und davon erzähle, wie gut ich mich mit ihr verstanden habe. In Deinen Briefen hast Du sie gar nicht so ausführlich erwähnt, sagt Mutter und tut so, als verschweige ich etwas. Selbst als ich eher nebenbei sage, dass die Signora schon weit über sechzig Jahre alt ist, reagiert Mutter bei jeder Erwähnung mit einer leichten Unruhe. In meiner unmittelbaren Nähe gibt es nur Männer und eigentlich auch nur ernste Männer, so stellt Mutter sich mein bisheriges Leben und wahrscheinlich auch das zukünftige vor.
    Und ich?! Wie stelle ich mir mein Leben vor? Ich denke oft darüber nach, habe aber keinen zündenden Einfall. Das Einzige, was ich früher wirklich gut konnte, war Klavierspielen, zu mehr habe ich es nicht gebracht. Auch wenn ich mich frage, was mir denn Freude machen könnte, komme ich auf nichts Nennenswertes. Freude machen könnte mir höchstens, eine Gartenwirtschaft an einem Fluss zu betreiben, vielleicht würde es aber auch reichen, wenn ich als Kellner in einer solchen Gartenwirtschaft arbeiten würde.
     
    Auf keinen Fall aber möchte ich noch einmal ein Projekt angehen, mit dem es hoch hinauf gehen soll. Ich möchte nicht hoch hinauf , nein, ich habe in dieser Hinsicht nicht mehr die geringsten Ambitionen. Deshalb tue ich mich auch mit den Gedanken an ein Studium schwer. Was könnte ich denn studieren? Vielleicht Landschaftsplanung oder Gartenbau , vielleicht Raumkomposition oder Spaziergangswissenschaft , wenn es denn so etwas gäbe.
    Schon die bloße Vorstellung aber, einen Hörsaal betreten, Vorlesungen hören, Seminare besuchen und Prüfungen ablegen zu müssen, wirkt auf mich sehr abschreckend. Ich möchte mit dem sogenannten Ernst des Lebens nichts mehr zu tun haben, ich möchte mich dem Leben entziehen, am liebsten würde ich mein Leben damit verbringen, in Ruhe weiter mit meinen Eltern zusammenzuleben und ihnen dabei zu helfen, das Alter, so gut es geht, zu genießen.
     
    Das Einzige, womit ich mich immer wieder beschäftige, sind meine alten Kladden, die in den grünen Kartons von Vaters Blockhaus untergebracht sind. Sie füllen etwa die Hälfte dieser Kartons, in der anderen aber sind die vielen Tausend Zettel, die Mutter während ihrer stummen Jahre beschrieben hat.
    Wenn Vater tagsüber unterwegs und Mutter in der Bibliothek ist, ziehe ich mich in das stille Blockhaus zurück und lese in diesen Quellen. Mutters Zettel sind exakt datiert, mit Tages-, Stunden- und Minutenangabe. Ich erfahre, wo ich mich in diesen Zeiten aufgehalten, womit ich gespielt und welchen Eindruck ich auf meine Mutter gemacht habe. In solche Bemerkungen eingeschoben sind Notizen zum Wetter, zu dem, was Mutter gelesen und was sie an Gesprächsfetzen auf den Straßen aufgeschnappt hat, sowie zu bestimmten Waren, die dringend eingekauft werden sollen.
     
    Manchmal kommt es vor, dass mein Hirn Phasen eines bestimmten Kindertages rekonstruiert und neu erzählt. Ich schließe dann die Augen und erlebe zum Beispiel noch einmal, wie ich an einem bestimmten Tag als Kind mit Mutter hinunter auf die Straße ging. Es ist ganz einfach, ich brauche die Notizen meiner Mutter nur in einen Text zu übertragen, der alles aus meiner Perspektive und von heute aus sieht: Es war der siebzehnte September 1956, ich hatte Durst, die Finger meiner Mutter rochen nach Zimt, wir hatten vergessen, die Fenster des Wohnzimmers zu schließen, deshalb regnete es am frühen Abend, als wir noch am Rhein saßen, hinein …
     
    Ein
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