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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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ich mache mich aus dem Staub. Ich gehe weiter am Rhein entlang, Richtung Eisenbahnbrücke, ich unterquere die Deutzer Eisenbahnbrücke und gehe weiter nach Norden. Ich weiß, dass ich jetzt in eine gefährliche Nähe zu meinen Kindheitsplätzen gerate, schon erkenne ich vertrautes Terrain, ich tue aber so, als nähme ich das alles nicht zur Kenntnis, ich schaue vor mich hin und gehe stur weiter.
     
    Jetzt reicht’s aber, höre ich da Walter Fornemann sagen, der neben mir auftaucht. Ich antworte nicht, und auch Fornemann sagt nichts mehr, wir gehen schweigend am Rhein entlang und geraten jetzt in die Nähe der Bänke, auf denen ich als Kind immer mit Mutter gesessen habe. Ich mag nicht mehr weitergehen, sage ich, und Walter Fornemann antwortet: Dann setzen wir uns, los, wir setzen uns jetzt, ich möchte, dass wir uns setzen.
     
    Wir setzen uns nebeneinander auf eine Bank, ich lehne mich etwas zurück und lasse die Beine über dem Boden baumeln. Wo möchtest Du anfangen mit dem Kellnern?, fragt Fornemann. – Ich weiß nicht. – Ich kenne den Wirt eines Lokals in Rodenkirchen, soll ich ihn fragen? – Nein, ich suche mir allein etwas.
    Wir schweigen, wir schweigen mindestens eine halbe Stunde. Sie haben noch einen letzten Vorschlag frei, sage ich dann und lasse die Beine weiter baumeln. – Du wartest auf etwas Originelles, Johannes, ich aber finde alles Originelle abscheulich. – Dann sagen Sie etwas Unoriginelles. – Ich an Deiner Stelle würde mich an der Universität umsehen, in allen Fächern, die mich auch nur eine Spur interessieren. Ich würde in Vorlesungen und Seminare gehen, ich würde versuchen, herauszubekommen, was an diesem Wissen dran ist. Und wenn ich fündig geworden wäre, würde ich zwei, drei Fächer studieren, intensiv. Was hältst Du davon? – Wenn ich ehrlich bin: Nichts! – Nichts?! Und womit willst Du Dir Deine viele Zeit vertreiben? Was willst Du in all Deinen freien Stunden tun, neben dem Kellnern? – Spazieren gehen, unterwegs sein, schreiben. – Und worüber willst Du schreiben? – Ich will meine Notiz- und Tagebücher von früher umschreiben. – Deine Notiz- und Tagebücher? Davon hast Du noch nie erzählt. – Warum hätte ich davon erzählen sollen? Es steht nichts Wichtiges drin. – Und warum willst Du sie dann umschreiben? – Weil ich den überdrehten Unsinn, der drinsteht, nicht mehr ertragen kann, weil ich aus dem überdrehten Unsinn etwas Gutes machen möchte. – Wie viele solcher Tagebücher gibt es denn? – Es gibt Kladden, schwarze Kladden, seit meinen Kinderjahren habe ich in schwarze Kladden geschrieben. – Und wie viele sind dabei zusammengekommen? – Ich weiß es nicht, ich habe sie nicht gezählt, ich vermute, es sind an die tausend. – Du besitzt tausend Kladden mit Tagebüchern? – Ich besitze tausend Kladden mit sehr konkreten Eintragungen über das, was ich gesehen habe.
     
    Ich rücke auf der Bank wieder etwas nach vorn, ich setze die Beine auf den Boden, es geht mir besser. Darf ich Sie zu einem Kölsch einladen?, frage ich Fornemann. – Du darfst, wenn Du mich in Zukunft duzt, antwortet er. – Ich kann Sie nicht duzen, tut mir leid, sage ich. – Na dann eben nicht, Du verdammter Dickkopf, sagt er und fragt dann noch, wo wir das Kölsch trinken sollen . – Im »Kappes«, sage ich, gleich in der Nähe. – Warst Du schon mal im »Kappes«?, fragt Fornemann. – Ja, ich war schon einmal im »Kappes«, antworte ich, ich war sogar schon tausende Male im »Kappes« …
     
    Als wir aufstehen, sehe ich, dass Fornemann mit dem Kopf schüttelt. Er glaubt mir nicht, er hält meine letzte Bemerkung für einen weiteren Wutausbruch. Walter Fornemann ist also ahnungslos, Walter Fornemann ahnt nicht, wohin er mich am frühen Abend unseres Wiedersehens in Köln begleitet.

45
     
    ES WAR vor drei Tagen …, ja?, wirklich?, ist es schon so lange her? …, ja, doch, es stimmt, der Flügel für Mariettas Konzert wurde vor drei Tagen gegen neun Uhr vormittags geliefert. Ich ging die Treppe hinunter auf den großen Platz, es war alles vorbereitet, die kleine Bühne stand vor einem Halbrund von Steineichen und Pinien, die Sitzreihen waren aufgebaut, zur Rechten der Bühne war eine lange Tafel für das spätere Büfett gedeckt.
    Der Bösendorfer wurde von zwei Helfern aus dem Laster und dann auf die Bühne gerollt, ich testete die Position und schob ihn noch etwas hin und her, dann stimmte alles. Ich erhielt den Schlüssel und öffnete den Flügel, ich setzte mich
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