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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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das Projekt nach. Wenn nicht, erhältst Du einen Verlagsvertrag, da wette ich …
     
    Ich erreichte wieder den großen Platz vor meinem römischen Wohnhaus, in der Nähe des Podiums hatten sich bereits viele Schaulustige versammelt. Ich eilte die Treppe hinauf und klingelte wieder bei Antonia. Marietta öffnete mir und ließ mich herein. Ich bin furchtbar nervös, sagte sie, warst Du auch immer nervös, wenn Du vorspielen musstest? – Nein, sagte ich, ich war kein bisschen nervös. – Kannst Du mir zeigen, wie man die Nervosität wegbekommt? – Ich glaube, das ist bei jedem Menschen anders, sagte ich, deshalb kann ich Dir wahrscheinlich nicht helfen. Am besten ist, Du spielst mir Dein Programm noch einmal vor. – Jetzt, sofort? – Ja, jetzt sofort.
     
    Ich ging mit ihr zu ihrem Klavier, und sie begann zu spielen. Ich unterbrach sie nicht, ich ließ sie ein Stück nach dem andern spielen, in genau der Folge, die wir auch für ihren Auftritt am Abend vorgesehen hatten. Es waren kurze, etwa fünfminütige Stücke aus meist längeren Kompositionen, ein Satz aus einer Haydn-Sonate, ein Satz aus einer Partita von Bach, etwas von Duke Ellington und Cole Porter, ein Tango und eine Improvisation über ein Choral-Thema von Bach.
    Marietta spielte das alles fast fehlerfrei, sie wirkte nur ein wenig verkrampfter als sonst. Stell Dir vor, dass Du für Dich selbst spielst, sagte ich, stell Dir vor, Du sitzt in Deinem Zimmer und spielst Dir das alles vor. Du hörst Dir zu, Du achtest darauf, wie Du spielst. Es gibt kein Publikum, Du spielst nicht für ein Publikum …
     
    Ich redete ihr ein, was ich mir vor meinen Auftritten als Pianist immer eingeredet hatte. Auch in der Stadt am Wörthersee hatte ich mir das alles eingeredet, ich hatte mich auf meinen Auftritt als Vorleser meiner Geschichte genau so vorbereitet wie auf wie meine früheren Auftritte als Pianist.
     
    Vor meiner Lesung war ich daher im Hotel geblieben, ich hatte mir keine anderen Lesungen angehört. Erst wenige Minuten vor meinem Auftritt war ich in dem Veranstaltungssaal erschienen und hatte gleich auf meinem Stuhl Platz genommen. Einen kurzen Moment hatte ich gefürchtet, kein Wort herauszubekommen, dann aber hatte eine kurze Bemerkung des Jury-Vorsitzenden in meine Richtung dafür gesorgt, dass ich sofort mit der Lesung begonnen hatte.
    Das ist Ihr Auftritt, junger Mann! , hatte er zu mir gesagt, und ich hatte mich an die vielen Ermunterungen vor meinen früheren pianistischen Auftritten erinnert, die oft aus einer solchen oder einer sehr ähnlichen Formel bestanden hatten. Das ist Dein Auftritt, Johannes! , hatte ich zu mir gesagt und meine beiden Hände auf den vor mir liegenden Papierstoß gelegt. Dann aber hatte ich mir die erste Seite vorgenommen: Um den Vollmond flogen eilend Wolkenfetzen, die sich sofort wieder zerstreuten …
    Ich lese dreißig Minuten, ich lese zum ersten Mal in meinem Leben anderen Menschen etwas vor. Ich höre mir zu, aber es ist anders als das Zuhören während eines Klaviervorspiels. Meine Stimme hat nur wenige Nuancen, meine Stimme schwingt in nur einer einzigen Tonlage. Ich kann kein Tempo machen, ich kann nur ab und zu etwas verlangsamen. Das alles erscheint mir eher wie ein Krächzen als ein Vortrag, außerdem kommen mir dreißig Minuten ungewöhnlich lang vor. Gut, dass ich die Reaktionen der Jury nicht mitbekomme, nein, ich bemerke nichts, ich bin vollkommen mit der Geschichte beschäftigt, ich sehe Bild für Bild, ich sehe all meine Bilder, meine Flucht, mein häufiges Unterwegssein, ich sehe die Menschen, Räume und Dinge in der Geschichte so vor mir, als bewegte ich mich gerade in ihnen. Ich bin eine Figur meiner Geschichte, ich lebe in ihr, alles, was man mir jetzt sagen wird, wird mich treffen. Es wird mich ermuntern oder verwunden oder entsetzen. Aber egal, dieses Vorlesen ist ein guter Ersatz, es ersetzt mir meine pianistischen Auftritte, es erlaubt mir die Vorstellung, auf einem Klavierhocker zu sitzen, um dem Publikum etwas vorzuspielen.
     
    Als es vorbei ist, spüre ich eine starke Müdigkeit, meine ganze Anspannung stürzt zusammen. Ich starre auf einen Punkt im Saal, ich habe plötzlich wieder mein kindliches Starren. Die Kommentare der Juroren höre ich nicht, es geht nicht, ich bekomme nichts mit. Ich höre ihre Stimmen, aber ich verstehe kein einziges Wort. Ich bin erstarrt, ich sitze da wie das erstarrte Kind neben der Mutter auf einer Bank am Rhein. Ich kann mich nicht mehr bewegen, ich bleibe sitzen,
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