Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
jedes Mal nahe, nicht wieder mit dem Klavierspiel zu beginnen, er redet eindringlich auf mich ein und erzählt von Fällen, in denen sich die Krankheit nach vorzeitigem Üben so sehr verschlimmert haben soll, dass der Patient nur mit hohen Dosierungen an Medikamenten leben konnte.
    Wenn ich so etwas höre, nicke ich und tue so, als sei ich beeindruckt, das bin ich aber nicht, schließlich weiß ich, dass ich nie mehr Klavier spielen werde, nie mehr. Ich habe die Pianistenlaufbahn endgültig aufgegeben, und ich werde erst recht keine Anstrengungen unternehmen, einen Beruf zu erlernen, der sonst etwas mit dem Klavier zu tun hat. Obwohl ich das absolute Gehör habe, werde ich kein Klavierstimmer werden, und ein Klavierlehrer werde ich auch nicht werden, auf keinen Fall, niemals.
     
    In diesen ersten Wochen nach meiner Rückkehr kann ich sogar überhaupt keine Musik mehr hören. Sobald ich aus dem Blockhaus meines Vaters Musik höre, suche ich nach einem Ort, an dem ich davon nichts mitbekomme. Nur die französischen Chansons, von denen meine Mutter noch immer täglich einige hört, sind erträglich.
     
    Überhaupt fühle ich mich in der Gegenwart meiner Mutter wieder am wohlsten. Sie führt inzwischen ein Leben, das mindestens zur Hälfte mit Frankreich zu tun hat und von französischen Romanen und französischer Musik genährt und begleitet wird. Noch immer liest sie gern vor, ja, das Vorlesen ist sogar zu einer ihrer liebsten Beschäftigungen geworden. So gibt es in der kleinen Landbibliothek, die sie leitet, einmal in der Woche einen Vorleseabend, an dem sie in Fortsetzungen aus Romanen liest.
    Da ich das gerne auch einmal erleben möchte, gehe ich mit ihr und höre mir eine solche Lesung an. Der Lesesaal ist mit Menschen überfüllt, sie sitzen zwischen den Bücherregalen bis zum Fenster, sie kommen aus allen Altersklassen, und die meisten von ihnen haben bestimmt noch nie einem Vorleser zugehört.
    Wegen der schlechten Luft stehen die Fenster weit offen, so dass man die weiche Stimme meiner Mutter auf dem gesamten Kirchplatz hört. Auch dort draußen bleiben die Menschen manchmal stehen und hören zu, die Wirkung, die von dieser sacht auf und ab schwingenden, jeder Satznuance folgenden Stimme ausgeht, ist unglaublich.
    Mutter liest Romane von Balzac, einen nach dem andern, sie will den ganzen Balzac vorlesen, in einer jahrelang sich fortsetzenden Vorlese-Reihe. Wenn sie zu Hause etwas im Stillen liest, widmet sie sich Stendhal, Flaubert und Proust, ich bitte sie, mir und nur mir aus den Romanen dieser Schriftsteller vorzulesen, und sie freut sich, dass ich mir das von ihr wünsche.
     
    Und so sitzen wir wie in meinen Kindertagen im Wohnzimmer, trinken Tee, hören Chansons und reisen in Gedanken nach Frankreich. Mutter meint, dass solche Nachmittage wertvoller seien als jede Medizin, und Vater stimmt so kühnen Behauptungen jedes Mal zu, weil ihm auch noch keine Alternative für mein Leben einfällt. Ich selbst aber werde von Tag zu Tag ein wenig ruhiger. Ich schlafe morgens aus, gehe in der Umgebung spazieren, erledige für meine Mutter die Einkäufe und arbeite in dem großen Garten, der das Haus umgibt. Ich habe das Gefühl, in Rom einen steilen Weg hinauf in eine schwindelerregende Höhe gegangen und mitten auf diesem Weg abgestürzt zu sein. Ich habe alles gegeben und alles verloren, das rede ich mir ein, und mit der Zeit erscheint mir diese Version wirklich als meine Geschichte.
     
    Die Sehnsucht nach der Ewigen Stadt freilich wird dadurch nicht schwächer. Ich träume noch immer von Rom, ich träume von Clara, und ich telefoniere heimlich mit Signora Francesca, um die brennende Sehnsucht wenigstens notdürftig zu stillen. Meist bitte ich sie, ein Fenster zu öffnen und mich die Geräusche aus dem Innenhof des römischen Wohnhauses hören zu lassen. Signora Francesca kommt diesem Wunsch gerne nach, sie versteht mich, und sie beendet jedes Telefonat mit den Worten: Johannes, Du weißt, hier ist für Dich immer ein Zimmer frei!
     
    Es gibt Tage, an denen ich nahe dran bin, sofort wieder nach Süden zu reisen. Dann helfe ich mir, indem ich mich in mein Zimmer zurückziehe und über den Weltempfänger italienische Rundfunksender höre. Ich lege mich auf mein Bett und höre das Perlen der italienischen Sprache, ich stelle mir vor, ich sei in den römischen Straßen unterwegs. In der ersten Kapelle der Chiesa Sant’ Andrea della Valle im rechten Seitenschiff befindet sich welches Gemälde? Und in der ersten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher