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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autoren: Serhij Zhadan
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streckte seine Pfoten nach mir aus. – Kumpel!
    Ich versuchte mich aufzurichten. Nach dem Schlaf auf dem harten Sitz wollte der Körper nicht gehorchen. Ich zog die Beine an, verlor das Gleichgewicht und fiel Kotscha direkt in die Arme.
    – Freund! – offenbar freute er sich, dass ich da war.
    – Hi, Kotscha, – antwortete ich, und wir drückten uns lange die Hände, klopften dem anderen mit den Fäusten auf Schultern und Rücken und zeigten auf jede erdenkliche Weise, wie toll es war, dass ich diese Nacht in dem leeren Fahrerhäuschen verbracht und er mich danach um sechs Uhr morgens geweckt hatte.
    – Bist du schon lange hier? – fragte Kotscha, als sich seine erste Begeisterung gelegt hatte. Meine Hand ließ er allerdings nicht los.
    – Seit gestern Nacht, – antwortete ich und versuchte mich zu befreien, um endlich die Schuhe anzuziehen.
    – Warum hast du denn nicht angerufen? – Kotscha machte keine Anstalten, meine Hand loszulassen.
    – Kotscha, du Arsch, – ich hatte mich endlich befreit und wusste nun nicht wohin mit meiner Hand. – Ich habe zwei Tage lang versucht, dich zu erreichen. Warum hebst du nicht ab?
    – Wann hast du denn angerufen? – fragte Kotscha.
    – Tagsüber. – Endlich schaffte ich es, meine Turnschuhe aus dem Fahrerhaus zu fischen.
    – Da war ich am Pennen, – sagte er. – In letzter Zeit hab ich Schlafprobleme. Ich schlafe am Tag, und nachts geh ich zur Arbeit. Aber nachts kommen keine Kunden. – Er trat von einem Fuß auf den anderen und versuchte, mich irgendwohin zu ziehen. – Vor allem aber – unser Telefon ist tot, abgestellt, weil wir die Rechnungen nicht bezahlt haben. Gestern bin ich in die Stadt gefahren und komme eben zurück. Los, ich zeig dir alles.
    *
    Er ging voran. Ich folgte. Vorbei an einem demolierten Moskwitsch mit abgebrannten Rädern, an einem Haufen Schrott, an Teilen von Flugzeugen, Kühlkammern und Gasherden stapfte ich hinter Kotscha her zu den Zapfsäulen. Die Tankstelle lag etwa hundert Meter von der Landstraße entfernt, die nach Norden führte. Unten, etwa zwei Kilometer weiter, lag in einem warmen Tal das Städtchen. Am südlichen Stadtrand, hinter dem Fabrikgelände, begannen Felder, die auf der anderen Talseite endeten, und im Norden wurde die Stadt von einem Fluss umarmt, der vom russischen Territorium in Richtung Donbass floss. Das linke Ufer war flach, am rechten jedoch erhoben sich steile Kreideklippen, von Beifuß und Dorngebüsch bewachsen. Auf der höchsten Anhöhe ragte für das ganze Tal sichtbar ein Sendeturm empor. Und ganz in der Nähe des Turms, auf der nächsten Erhebung, lag die Tankstelle. Erbaut worden war sie in den Siebzigern. Damals hatte die Stadt ein Öltanklager bekommen und zwei Tankstellen gleich dazu – eine an der südlichen, die andere an der nördlichen Ausfahrt. In den Neunzigern ging das Öltanklager pleite und mit ihm eine der beiden Tankstellen, aber diese hier, an der Straße nach Charkiw, überlebte. Mein Bruder hatte schon Anfang der Neunziger, als das Öltanklager noch vor sich hin vegetierte, hier angeheuert und übernahm später das Geschäft. Die Tankstelle selbst machte keinen guten Eindruck – vier alte Zapfsäulen, das Kassenhäuschen, ein leerer Mast, an dem man bei Bedarf jemanden aufknüpfen konnte. Etwas weiter weg stand ein unbeheizter Schuppen, vollgestopft mit Metallkram – mein Bruder investierte nicht in die Entwicklung der Infrastruktur, sondern in die Verbesserung des Service und schleppte von überall Werkzeuge und Maschinen an, mit deren Hilfe er alles reparieren konnte. Er selbst wohnte in der Stadt, kam jeden Morgen hier herauf und fuhr erst spät abends wieder ins Tal hinunter. Ein Wahnsinnsteam arbeitete mit ihm zusammen; Kotscha und Schura der Versehrte, zwei urwüchsige Ingenieurstalente, die in ihrer Karriere mehr als einer Karre das Leben gerettet hatten, worauf sie auch stolz waren. Auch Schura der Versehrte wohnte irgendwo in der Stadt, Kotscha aber hatte keine eigene Wohnung und hing immer bei der Tankstelle rum; er schlief im Bauwagen, der nach allen Regeln des Feng-Shui eingerichtet war. Neben der Tankstelle hatte man einen asphaltierten Platz mit Montagegrube angelegt, ein Stück weiter, unter den Linden, ein paar Metalltische in den Boden gerammt. Direkt hinter der Tankstelle begannen die Apfelplantagen, die sich die Kreidehügel entlangzogen, und nach Norden öffnete sich die Steppe, aus der ab und zu landwirtschaftliche Maschinen hervorlärmten. Hinter dem
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