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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autoren: Serhij Zhadan
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Bauwagen war ein Schrottplatz für lädierte Technik entstanden, Skelette zerlegter Autos und ein Haufen alter Reifen. Daneben verbarg sich in Himbeersträuchern das KAMAZ -Fahrerhäuschen, aus dem sich der Blick auf das sonnendurchflutete Tal und die schutzlose Stadt öffnete. Aber es ging nicht um die Infrastruktur und die alten Zapfsäulen. Es ging um die Lage. Das war meinem Bruder sehr wohl bewusst gewesen, als er sich seinerzeit diese Tankstelle ausgesucht hatte. Tatsächlich lag der nächste Ort, wo man Benzin bekam, etwa siebzig Kilometer weiter nördlich, und die Straße führte durch zwielichtige Gegenden ohne staatliche Kontrolle und reguläre Bevölkerung. Angeblich gab es weiter nördlich nicht mal Mobilfunkempfang. Die Fahrer wussten das und versuchten deshalb bei meinem Bruder zu tanken. Außerdem arbeitete hier Schura der Versehrte, der beste Automechaniker weit und breit, der Gott der Kardanwellen und Getriebe. Kurzum, es war eine Goldgrube.
    *
    Neben den Zapfsäulen, am Ziegelhäuschen mit dem Kassenapparat, standen zwei Autositze, die zum Relaxen hierhergestellt worden waren. Sie waren mit schwarzem Fell mir unbekannter Tiere überzogen, die Federn sprangen in alle Richtungen daraus hervor, und an dem einen Sitz war ein sonderbarer Hebel angebracht, gut möglich, dass es sich um einen Schleudersitz handelte. Kotscha ließ sich erschöpft hineinfallen, holte seine Zigaretten aus der Tasche, zündete sich eine an und gestikulierte: Setz dich, Kumpel. Was ich auch tat. Die Sonne wurde warm, wie Steine am Ufer, und der Himmel wölbte sich wie ein Segel im Wind. Sonntag, Ende Mai, genau der richtige Moment, um von hier zu verschwinden.
    – Wie lange bleibst du? – fragte Kotscha mit pfeifender Stimme.
    – Heute Abend geht’s zurück, – antwortete ich.
    – Warum so hastig? Bleib ein paar Tage. Wir können angeln gehen.
    – Kotscha, wo ist mein Bruder?
    – Hab ich dir doch gesagt. In Amsterdam.
    – Warum hat er nicht Bescheid gegeben, dass er wegfährt?
    – Keine Ahnung, Harry. Er hatte nicht vor wegzufahren. Und dann hat er plötzlich alles hingeschmissen. Und gesagt, dass er nicht wiederkommt.
    – Gab’s Probleme mit dem Business?
    – Was heißt hier Probleme, Harry? – Kotscha regte sich plötzlich auf. – Hier gibt’s weder Probleme noch Business, nur Tränen. Schau’s dir doch an.
    – Und was sollen wir jetzt machen?
    – Keine Ahnung. Mach, was du willst.
    Kotscha drückte seine Kippe aus und warf sie in einen Eimer mit der Aufschrift »Rauchen verboten«. Wandte sein Gesicht der Sonne zu und verstummte. Scheiße, dachte ich, was geht bloß in seinem Schädel vor, was heckt er aus? Bestimmt verschweigt er mir was, sitzt da und heckt was aus.
    *
    Kotscha war knapp fünfzig. Für sein Alter ziemlich unstet, ziemlich kahl und sozial nicht abgesichert. Auf seinem Kopf sträubten sich um die Glatze herum die Reste seiner einst prächtigen Mähne, an die ich mich aus meiner Kindheit gut erinnern konnte. Genauso wie an Kotscha selbst – nach meinen Eltern, Nachbarn und Verwandten war er das erste Wesen, das sich meinem Bewusstsein eingeprägt hatte. Ich wuchs heran, Kotscha kam in die Jahre. Wir wohnten in Nachbarhäusern, in einem neuen Viertel, an dem die ganze Zeit weiter gebaut wurde, so dass ich praktisch auf einer Baustelle groß wurde. In den Häusern lebten vorwiegend Arbeiter aus den kleinen umliegenden Fabriken – Großbetriebe gab es in der Stadt keine, außerdem Eisenbahner, Lumpenakademiker (Lehrer oder Büroangestellte), aber auch Militärs (wie mein Vater) und selbstverständlich Komsomolkader, die jugendlichen Hoffnungsträger sozusagen. Wenn ich mich recht erinnere, zog Kotscha später ein, doch hatte er wohl schon immer in diesem Stadtteil gelebt. Er gehörte zu den jugendlichen Hoffnungsträgern, wuchs ohne Eltern auf, bekam schon in der Schule Probleme mit der Miliz und entwickelte sich allmählich zum Schrecken des ganzen Viertels. Es war damals, in den Siebzigern, gerade erst im Entstehen, weshalb Kotschas wilde Jugendjahre mit dem intensiven Ausbau der kommunalen Infrastruktur zusammenfielen. Kotscha plünderte neue Gastronom-Geschäfte, raubte die soeben eröffneten Zeitungskioske aus, stieg nachts ins halb fertige Standesamt ein, kurzum, er ging mit der Zeit. Die Strafverfolgungsorgane zeigten sich vollkommen hilflos und übergaben ihn dem Komsomol zur Aufsicht. Irgendwie gelangte der Komsomol zu dem Schluss, dass Kotscha für die kommunistische Jugend noch
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