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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autoren: Serhij Zhadan
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verbrachten sie den Tag und eine weitere Nacht. Die Händler weigerten sich zu schlafen, sie bewachten die Ware, spielten Gitarre und sangen, nur einmal gingen sie zum Bahnhof, um Alk und neue Saiten zu besorgen. Dem Fahrer gelang es schließlich, das Fahrwerk zu reparieren, er nahm die Händler an Bord und setzte den bitteren Heimweg fort. Als er den Stau bei der Brücke sah, überlegte er nicht lange, schlug einen riesigen Haken und gelangte auf Umwegen und mithilfe alter Bretter ans linke Ufer. Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten. Behauptete er.
     
    Der Autobus fuhr auf einen Hügel und hustete schwer. Vor uns lag ein breites, sonniges Tal, mit hellgrünen, von goldenen Rinnen durchzogenen Maisfeldern. Der Fahrer preschte entschlossen vorwärts. Schaltete den Motor aus und entspannte sich. Der Bus wälzte sich bergab, wie eine von den unvorsichtigen Schreien japanischer Touristen ausgelöste Schneelawine. Der Wind pfiff um die warmen Ecken, Käfer zerschellten an der Frontscheibe wie Mairegentropfen, wir flogen, nahmen Fahrt auf, und um uns und über uns erklangen die Stimmen der indischen Sänger und kündeten von langen Freuden und einem schmerzlosen Tod. Nachdem er ins Tal gerollt war, erklomm der Autobus mit Schwung auch den nächsten Hügel, wo der Fahrer den Motor neu zu starten versuchte. Der Ikarus schüttelte sich, man hörte das laute Knirschen von Eisen auf Eisen, und das Gefährt stand still. Der Fahrer schwieg verzweifelt. Es wäre mir unangenehm gewesen, ihn etwas zu fragen. Schließlich ließ er den Kopf aufs Lenkrad sinken und verstummte, nur ab und zu zuckten seine Schultern. Erst dachte ich, er weine, es war ein irgendwie rührender Anblick. Doch als ich lauschte, verstand ich schließlich, dass er schon im Traum zuckte. Alle anderen, die Passagiere dieses Gespenster-Ikarus, schliefen ebenfalls. Und keiner kam auch nur auf die Idee, die Ware zu bewachen. Ich durchstreifte wieder den Gang und linste aus dem Fenster. Der Wind wiegte den jungen Mais, tiefe Stille ringsum, und die Sonne fraß sich in den Tag wie ein Fettfleck in Stoff. Plötzlich berührte jemand meine Hand. Ich schaute mich um. Ganz hinten waren Vorhänge, dunkelbraun und lange nicht gewaschen. Ich hatte gedacht, hinter den Vorhängen wäre nichts mehr, nur die Wand oder ein Fenster oder so. Aber dort wurde eine Hand herausgestreckt, die mich packte und hineinzog. Ich folgte, glitt durch einen unsichtbaren Eingang und befand mich in einem kleinen Zimmer. So eine Art Chill-out, ein Ort für Meditation und Liebe, eine von Geistern und Schatten bewohnte Zelle. Die Wände des Zimmerchens waren mit chinesischen Synthetiktüchern verhängt, die wundersame Ornamente und Malereien zeigten, Hirschjagden, Teezeremonien und »Die Pioniere der Stadt Peking begrüßen den Genossen Mao«. An den Wänden standen zwei kleine Sofas. Und darauf saßen drei Neger und eine Negerin. Die Neger trugen weißliche Unterwäsche, und die Negerin graue Sportsachen. Um ihren Hals baumelten schwere Ketten mit Schädelchen dran, und statt eines Kamms steckte ein Federmesser in ihrem Haar. Auf ihren Knien hielt sie eine Thermoskanne. Die Augen der Neger flackerten gierig in der Dämmerung, und die gelblichen Augäpfel brannten in der Dunkelheit wie Bernstein. Die Negerin aber schaute mich fest an und fragte, ohne meine Hand loszulassen:
    – Wer bist du?
    – Und wer bist du? – fragte ich, während ich die Wärme ihrer Hand und die Schwere der Silberringe an ihren Fingern spürte.
    – Ich bin Karolina, – sagte sie und entzog mir plötzlich ihre Hand. Einer der Neger schielte zu mir herüber und flüsterte seinem Nachbarn etwas ins Ohr, und der lachte kurz auf. – Wohin fährst du? – fragte Karolina und musterte mich im Halbdunkel.
    – Nach Hause, – antwortete ich.
    – Und wer wartet dort auf dich? – Sie zog das Messer aus ihrer Frisur, und das dichte Haar fiel herab und verbarg ihre Augen.
    – Niemand.
    Karolina lachte jetzt auch.
    – Warum fährst du hin, wo niemand auf dich wartet? – fragte sie, holte einen Granatapfel hervor und schnitt ihn in der Mitte durch.
    – Was spielt das für eine Rolle? – fragte ich verständnislos. – Ich war einfach lange nicht da.
    – Hier, nimm, – sie streckte mir den halben Granatapfel hin. – Was wirst du dort machen, wo niemand auf dich wartet?
    – Ich bleibe nicht lange. Morgen fahre ich wieder zurück.
    – Hast du solche Angst, dorthin zurückzukehren? – Karolina lachte wieder und knabberte an
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