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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autoren: Serhij Zhadan
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dem warmen Himmel, an der leeren Landstraße, die der nächtlichen Metro glich – ähnlich hoffnungslos war alles ringsumher, ähnlich lang erschienen die hier verbrachten Minuten. Hinter der Kreuzung, an der Ortsausfahrt, befand sich eine von unbekannten Passanten akribisch verwüstete Bushaltestelle: die Wände mit schwarzen und roten Mustern bemalt, der erdige Boden dick und gleichmäßig mit Glasscherben übersät, aus der Ziegelmauer wuchs düsteres Gras, in dem Eidechsen und Spinnen hausten. Ich konnte mich nicht entschließen hineinzugehen, stellte mich in den Schatten, den die Wände warfen, und wartete. Und ich musste lange warten. Einzelne Laster fuhren Richtung Norden und ließen Staub und Hoffnungslosigkeit hinter sich zurück, aber in die Gegenrichtung fuhr überhaupt niemand. Mein Schatten lief mir langsam aus den Füßen. Ich wollte schon fast umkehren und überlegte, wie lange ich brauchen würde, wo meine Freunde wohl jetzt wären, als plötzlich, irgendwo von der Seite, aus dem Schilf- und Ufergürtel des Flusses, verzweifelt mit dem Auspuff trötend ein blutroter Ikarus-Bus die Böschung der Landstraße erklomm. Ruckelnd kam er auf seinen vier Rädern zu stehen wie ein Hund, der sich das Wasser abschüttelt, holte tief Atem, schaltete und kroch auf mich zu. Ich war starr vor Überraschung und glotzte das ungeheure, staubumwehte, blutverklebte und ölbeschmierte Verkehrsmittel an. Der Bus rollte langsam zur Haltestelle und hielt mit allen Teilen quietschend an. Die Türen öffneten sich. Aus den Autobus-Innereien wehten mich Tod und Nikotin an. Der Fahrer, nackt bis zum Gürtel und nass geschwitzt, wischte sich die Stirn und schrie:
    – Was ist, Söhnchen, willst du mit?
    – Ja, – antwortete ich und kletterte hinein.
    Freie Plätze gab es keine. Der Bus war besiedelt von einem schläfrigen unbeweglichen Publikum. Es gab Frauen in BH und Trainingshosen, mit grellem Make-up und langen künstlichen Fingernägeln, Männer mit Herrenhandtäschchen und Tätowierungen, ebenfalls in Trainingshosen und chinesischen Turnschlappen, Kinder mit Baseballkappen und Trainingsanzügen, Knüppel und Schlagringe in den Händen. Sie alle schliefen oder versuchten zu schlafen, so dass mich niemand beachtete. Über allem hing indische Musik, zitternd wie ein Schwarm Kolibris, der durch den Bus flatterte und dem süßen Seelenverkäufer zu entrinnen versuchte. Aber die Musik störte niemanden. Ich ging durch den Gang auf der Suche nach einem freien Platz, fand keinen und kehrte zum Fahrer zurück. Die Frontscheibe vor ihm war dicht mit orthodoxen Ikonen beklebt und vollgehängt mit buntem Sakraltand, was das Gefährt offenbar davor bewahrte, komplett auseinanderzufallen. Plüschbären hingen neben Tonskeletten mit gebrochenen Rippen, Halsketten aus Hühnerköpfen und Manchester-United-Wimpeln, mit Tesafilm waren Pornobildchen, Stalinporträts und fotokopierte Darstellungen des heiligen Franziskus angeklebt. Und auf der Ablage vor dem Fahrer staubten Straßenkarten vor sich hin, Hustler-Hefte, mit denen er die Mücken totschlug, Taschenlampen, blutverschmierte Messer, Äpfel, aus denen die Würmer krochen, und kleine Holzikonen mit den Antlitzen der großen Märtyrer. Der Fahrer schnaufte schwer, seine eine Hand umklammerte das Lenkrad, in der anderen hielt er eine große Flasche Wasser.
    – Was ist, Söhnchen, – fragte er, – alles voll?
    – Mhm.
    – Bleib bei mir stehen, sonst schlaf ich auch noch ein. Die haben’s gut – haben einen Platz gekriegt und schlafen. Und ich bin verantwortlich.
    – Für was verantwortlich?
    – Für die Ware, Söhnchen, für die Ware, – erklärte er mir, als gehörte ich dazu.
     
    Es waren Händler aus dem Donbass, ganze Familien von Kleinhändlern. Vor zwei Tagen hatten sie sich in Charkiw mit Ware versorgt – Trainingsanzüge, chinesische Turnschlappen und anderer Mist. Und ab nach Hause. Aber kaum lag die Stadt hinter ihnen, da ging der Bus hoffnungslos kaputt, das Fahrwerk, Söhnchen, das Fahrwerk, seine letzte Werkstatt hat der Bus hier vor den Olympischen Spielen in Moskau gesehen! Die erste Nacht verbrachten sie auf der Landstraße. Der Fahrer kroch wie eine Blindschleiche zwischen den Rädern herum, und sie hielten Wache, nährten bis zum Morgen das Lagerfeuer, spielten Gitarre und sangen dazu. Das gefiel ihnen sogar. Am Morgen ging der Fahrer ins nächste Dorf und brachte Bauern auf Traktoren mit. Die Bauern schleppten sie ins nächste Eisenbahndepot. Dort
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