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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autoren: Serhij Zhadan
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Unter Kollegen. Lolik mochte seinen Cousin nicht und mich vermutlich auch nicht. Aber wir lebten schon seit ein paar Jahren Tür an Tür, unser Verhältnis war friedlich, sogar vertrauensvoll. Ich lieh mir Kleider von ihm, er sich Geld von mir. Mit dem Unterschied, dass ich die Kleider immer zurückgab. In den vergangenen Monaten hatten die Cousins irgendwas Neues gefunden, ein neues Familienbusiness, aus dem ich mich heraushielt, denn es handelte sich um Parteigelder, und keiner wusste, wie das enden würde. Meine Ersparnisse, ein Bündel Grüne, hielt ich von ihnen fern und bewahrte sie im Regal zwischen den Seiten eines Hegel-Bandes auf. Eigentlich vertraute ich ihnen. Andererseits wusste ich, dass es höchste Zeit war, mir eine normale Arbeit zu suchen.
    *
    Borja saß am Tisch über irgendwelchen Papieren. Vor ihm lagen Ordner mit Umfrageergebnissen. Als er uns sah, schaltete er schnell auf die Website der Gebietsadministration um.
    – Ah, ihr seid es, – sagte er munter, wie es sich für den Chef gehört. – Na wie geht’s?
    – Borja, – begann ich, – wir wollen zu meinem Bruder fahren. Du kennst ihn, oder?
    – Ich kenne ihn, – antwortete Bolik und musterte seine Nägel.
    – Morgen liegt doch nichts an?
    Bolik überlegte, betrachtete wieder seine Nägel und faltete dann hastig die Hände hinter dem Rücken.
    – Morgen ist frei, – antwortete er.
    – Dann lass uns fahren, – sagte ich zu Ljoscha und ging zur Tür.
    – Wartet, – stoppte mich Bolik. – Ich fahre mit.
    – Wirklich? – fragte ich ungläubig.
    Ich hatte keine Lust, ihn mitzunehmen. Soweit ich sah, war auch Lolik nicht begeistert.
    – Ja, – versicherte Bolik, – lasst uns zusammen fahren. Ihr habt doch nichts dagegen?
    Lolik schwieg mürrisch.
    – Borja, – fragte ich ihn, – und was hast du davon, wenn du mitfährst?
    – Einfach so, – antwortete Bolik. – Ich stör euch auch nicht.
    Offenbar war auch Lolik von der Aussicht genervt, mit seinem Cousin zu fahren, der ihn immer an der kurzen Leine führte und keinen Moment aus den Augen lassen wollte.
    – Aber wir fahren früh los, – versuchte ich den Befreiungsschlag, – so um fünf.
    – Um fünf? – fragte Lolik.
    – Um fünf! – stieß Bolik aus.
    – Um fünf, – wiederholte ich und ging zur Tür.
     
    Das sollen die ruhig unter sich ausmachen, dachte ich.
    *
    Im Laufe des Tages rief ich mehrmals bei Kotscha an. Keiner nahm ab. Vielleicht ist er tot, – dachte ich. Nicht ganz ohne Hoffnung.
    *
    Abends saßen Lolik und ich in der Küche. Hör mal, – begann er plötzlich, – vielleicht fahren wir besser nicht? Vielleicht rufst du nochmal an? Ljoscha, – antwortete ich bestimmt, – wir fahren doch nur für einen Tag. Am Sonntag sind wir zurück. Mach dir nicht ins Hemd. Mach dir selber nicht ins Hemd, – sagte Lolik. Okay, – antwortete ich.
     
    Aber was hieß hier okay? Ich war 33 Jahre alt und lebte schon seit einer Ewigkeit glücklich allein, meine Eltern sah ich selten, zu meinem Bruder unterhielt ich eine normale Beziehung. Ich verfügte über einen Studienabschluss, der niemand interessierte. Arbeitete als wer weiß was. Mein Geld reichte für das, was ich gewohnt war. Für neue Gewohnheiten war es zu spät. Mir passte alles so, wie es war. Was mir nicht passte, blendete ich aus. Vor einer Woche war mein Bruder verschwunden, ohne Bescheid zu sagen. Das Leben war völlig in Ordnung.
    *
    Der Parkplatz war leer, und wir wirkten irgendwie verdächtig. Borja verspätete sich. Ich schlug vor zu fahren, aber Lolik wollte nicht, er ging zum Supermarkt, um sich einen Kaffee aus dem Automaten zu holen, er schloss Bekanntschaft mit den Wachleuten, die hier wohnten, direkt neben dem großen beleuchteten Gebäude. In der Morgenluft glommen die Schaufenster gelblich. Der Supermarkt glich einem havarierten Dampfer. Von Zeit zu Zeit überquerte ein Rudel Hunde den Parkplatz, sie schnüffelten misstrauisch am nassen Asphalt und drehten die Köpfe der Morgensonne zu. Lolik lümmelte sich in den Fahrersitz, rauchte eine nach der anderen und schnappte sich nervös sein Handy, um seinen Cousin herauszuklingeln. In letzter Zeit telefonierten sie überhaupt ziemlich oft, sie stritten sich ständig. Als ob sie sich nicht vertrauten. Der Cousin nervte Lolik, er wollte ihn in was hineinziehen. Ich riet Lolik, standhaft zu bleiben, aber die Aussicht auf leicht verdientes Geld machte ihn wehrlos. Seine finanziellen Machenschaften beobachtete ich mit Nachsicht und war froh,
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