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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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Welt einen nur zur Verzweiflung treiben kann, zu einer so umfassenden, so entschlossenen Verzweiflung, dass nichts die Tür dieses Kerkers, der Hoffnungslosigkeit heißt, zu öffnen vermag, späht A. durch das Gitter seiner Zelle und findet nur einen Gedanken, der ihm so etwas wie Trost gibt: das Bild seines Sohnes. Und nicht nur seines Sohnes, sondern irgendeines Sohnes, irgendeiner Tochter, irgendeines Kindes, irgendwelcher Eltern.
    Da die Welt ein Monstrum ist. Da sie für die Zukunft keine Hoffnung zu bieten scheint, betrachtet A. seinen Sohn und erkennt, dass er sich nicht der Verzweiflung hingeben darf. Er trägt die Verantwortung für ein junges Leben, und da er dieses Leben in die Welt gesetzt hat, darf er nicht verzweifeln. Mit jeder Minute, mit jeder Stunde, die er mit seinem Sohn verbringt, sich um seine Bedürfnisse kümmert und sich diesem jungen Leben widmet, das für ihn eine unablässige Aufforderung darstellt, in der Gegenwart auszuharren, fühlt er seine Verzweiflung schwinden. Und mag er noch immer verzweifeln, er erlaubt sich die Verzweiflung nicht.
    Der Gedanke an das Leiden eines Kindes ist für ihn also etwas Fürchterliches. Sogar noch fürchterlicher als die Monstrosität der Welt. Denn damit wird die Welt ihres einzigen Trostes beraubt, und da eine Welt ohne Trost vorstellbar ist, ist sie ein Monstrum.
    Weiter kann er nicht mehr gehen.

    Hier fängt es an. Er steht allein in einem leeren Zimmer und beginnt zu weinen. «Das ist zu viel für mich, ich kann dem nicht mehr ins Auge sehen» (Mallarmé). «Ein Belsen-haftes Aussehen», wie der Ingenieur in Kambodscha notierte. Und, ja, dies ist der Ort, an dem Anne Frank gestorben ist.
    «Es ist ein Wunder», schrieb sie drei Wochen vor ihrer Arretierung, «dass ich all meine Hoffnungen noch nicht aufgegeben habe, denn sie erscheinen absurd und unerfüllbar … Ich sehe, wie die Welt langsam mehr und mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre immer stärker den anrollenden Donner, der auch uns töten wird, ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit, und doch, wenn ich nach dem Himmel sehe, denke ich, dass alles sich wieder zum Guten wenden wird, dass auch diese Härte ein Ende haben muss …»

    Nein, er will bestimmt nicht behaupten, dies sei das Einzige. Er will nicht einmal so tun, als ob das zu begreifen wäre, als ob, indem man immer wieder darüber redete, ein Sinn darin zu finden wäre. Nein, es ist nicht das Einzige, und dennoch geht das Leben weiter, für einige jedenfalls, wenn nicht für die meisten. Und doch, da es etwas ist, das sich ewig jedem Begreifen entziehen wird, möchte er, dass es für ihn als dasjenige gelten soll, das immer noch vor dem Anfang kommt. Wie in den Sätzen: «Hier fängt es an. Er steht allein in einem leeren Zimmer und beginnt zu weinen.»

    Rückkehr zum Bauch des Wals.
    «Es erging das Wort Jahwes an Jona … also: ‹Auf, gehe nach Ninive, der großen Stadt, und predige ihr …›»
    Auch in diesem Befehl unterscheidet sich Jonas Geschichte von der aller anderen Propheten. Denn die Bewohner Ninives sind keine Juden. Im Gegensatz zu den anderen Überbringern von Gottes Wort wird Jona nicht aufgefordert, zu seinen eigenen Leuten, sondern zu Fremden zu reden. Schlimmer noch, es sind die Feinde seines Volkes. Ninive war die Hauptstadt Assyriens, des mächtigsten Reiches der damaligen Welt. In den Worten Nahums (dessen Prophezeiungen auf derselben Schriftrolle wie die des Jona überliefert wurden): «Die Blutstadt. Alles an ihr ist Betrug, sie ist voll von Gewalttat, sie will vom Rauben nicht lassen.»
    «Auf, gehe nach Ninive», sagt Gott zu Jona. Ninive liegt im Osten. Prompt geht Jona nach Westen, nach Tarschisch (Tartessus, an der äußersten Spitze Spaniens). Er läuft nicht nur einfach weg, sondern geht bis an die Grenze der damals bekannten Welt. Das Motiv für diese Flucht ist leicht nachzuvollziehen. Man stelle sich einen analogen Fall vor: Einem Juden würde gesagt, er solle während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland gehen und dort gegen die Nationalsozialisten predigen. Ein Gedanke, der Unmögliches verlangt.
    Bereits im zweiten Jahrhundert heißt es dazu in einem rabbinischen Kommentar, Jona sei nicht an Bord des Schiffes gegangen, um der Gegenwart Gottes zu entfliehen, sondern um sich zum Wohle Israels im Meer zu ertränken. Dies ist eine politische Deutung des Buchs, die denn auch bald von christlichen Interpreten gegen die Juden angewandt wurde. So sagt zum Beispiel Theodor von
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