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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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Mopsuhestia, dass Jona nach Ninive geschickt worden sei, weil die Juden sich geweigert hätten, die Propheten anzuhören, und das Buch Jona sei geschrieben worden, um diesem «halsstarrigen Volk» eine Lektion zu erteilen. Rupert von Deutz wiederum, ein anderer christlicher Interpret (zwölftes Jahrhundert), behauptet, der Prophet habe sich Gottes Gebot aus Respekt vor seinem Volk widersetzt, und eben deshalb sei Gott auch nicht sehr böse auf Jona gewesen. Dies entspricht der Meinung von Rabbi Akiba, der erklärte, dass «Jona zwar eifersüchtig auf den Ruhm des Sohnes (Israel) war, aber nicht auf den Ruhm des Vaters (Gott)».
    Gleichwohl erklärt sich Jona am Ende bereit, nach Ninive zu gehen. Aber nachdem er dort seine Botschaft ausgerichtet hat, nachdem die Niniveten Buße getan und ihr Leben geändert haben, nachdem Gott sie von Strafe verschont hat, erfahren wir: «Das verdross Jona gar sehr, und er ward zornig.» Hier handelt es sich um patriotischen Zorn. Warum sollten die Feinde Israels geschont werden? Hier nun bekommt Jona – mit dem Gleichnis vom Rizinusstrauch – von Gott die Moral der Geschichte geliefert.
    «Ist es wohl recht, dass du zornig bist?», fragt Jahwe. Worauf Jona sich an den Stadtrand verzieht, «um zu sehen, was mit der Stadt geschehen würde» – womit angedeutet wird, dass er immer noch an die Möglichkeit einer Zerstörung Ninives glaubte oder dass er hoffte, die Niniveten würden zu ihrem sündigen Lebenswandel zurückkehren und damit die Strafe auf sich herabziehen. Gott lässt einen Rizinusstrauch wachsen, der Jona vor der Sonne schützen soll, und «Jona freute sich sehr über den Rizinusstrauch». Doch am nächsten Morgen hat Gott den Strauch verdorren lassen. Ein glühender Ostwind kommt auf, die Sonne brennt gnadenlos auf Jona nieder, so «dass er ganz ermattete, sich den Tod wünschte und sprach: ‹Es ist besser, ich sterbe, als dass ich am Leben bleibe›» – die gleichen Worte hat er schon früher benutzt, was darauf hinweist, dass die Botschaft dieses Gleichnisses dieselbe ist wie im ersten Teil des Buchs. «Da sprach Gott zu Jona: ‹Ist es wohl recht, dass du zürnest wegen der Rizinusstaude?› Da erwiderte er: ‹Mit Recht bin ich erzürnt und möchte sterben.› Da sprach Jahwe: ‹Du hast Mitleid mit dem Rizinusstrauch, um den du dich nicht gemüht hast und den du nicht herangezogen hast, der in einer Nacht heranwuchs und in einer Nacht verging. Und ich soll nicht Mitleid haben mit Ninive, der großen Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die nicht zwischen rechts und links unterscheiden können, und so viel Vieh?›»
    Diese Sünder, diese Heiden – und sogar das Vieh, das ihnen gehört – sind ebenso Gottes Geschöpfe wie die Hebräer. Eine verblüffende und originelle Idee, zumal in Anbetracht der Entstehungszeit der Geschichte – achtes Jahrhundert vor Chr. (Heraklits Zeit). Doch letzten Endes ist dies der Kern dessen, was die Rabbis zu lehren haben. Wenn es überhaupt Gerechtigkeit geben soll, dann muss es eine Gerechtigkeit für alle sein. Niemand kann ausgeschlossen werden, sonst kann es Gerechtigkeit nicht geben. Die Schlussfolgerung ist unausweichlich. Dieses winzige Buch, in dem uns die seltsame und sogar komische Geschichte von Jona erzählt wird, nimmt in der Liturgie einen zentralen Platz ein: Alljährlich am Jom Kippur, dem Versöhnungstag, dem höchsten Feiertag im jüdischen Kalender, wird es in der Synagoge vorgelesen. Denn alles ist, wie schon bemerkt, mit allem anderen verbunden. Und wenn es alles gibt, dann folgt daraus, dass es alle gibt. Er wird Jonas letzte Worte nie vergessen: «Mit Recht bin ich erzürnt und möchte sterben.» Und doch schreibt er diese Worte auf das vor ihm liegende Blatt Papier. Wenn es alles gibt, dann folgt daraus, dass es alle gibt.

    Die Worte reimen sich, und auch wenn es keinen echten Zusammenhang zwischen ihnen gibt, kann er sie sich nur zusammen denken. Room und tomb, tomb und womb, womb und room. Breath und death (Zimmer und Grab, Grab und Schoß, Schoß und Zimmer, Atem und Tod). Oder dass die Buchstaben des Wortes «live» (leben) von hinten gelesen «evil» (böse) ergeben. Er weiß, das ist allenfalls ein Spiel für Schuljungen. Doch seltsam, als er das Wort «Schuljunge» schreibt, fällt ihm ein, wie er als Acht- oder Neunjähriger ein jähes Machtgefühl empfunden hatte, als er entdeckte, dass er so mit Worten spielen konnte – als hätte er tatsächlich einen Geheimweg
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