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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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zur Wahrheit gefunden: zur absoluten, universalen, unerschütterlichen Wahrheit, die im Mittelpunkt der Welt verborgen liegt. Natürlich hatte er in seiner kindlichen Begeisterung völlig übersehen, dass es auch noch andere Sprachen als das Englische gab, jenes große Babel von Zungen, die in der Welt außerhalb seines Schuljungenlebens durcheinanderredeten. Und wie kann die absolute und unerschütterliche Wahrheit sich von Sprache zu Sprache ändern?
    Dennoch lässt sich die Macht von Reimworten und Anagrammen nicht völlig von der Hand weisen. Das Gefühl von Zauberei bleibt bestehen, auch wenn man es nicht mit der Suche nach der Wahrheit in Verbindung bringen kann, und eben diesen Zauber, eben diese Beziehungen zwischen den Wörtern gibt es in jeder Sprache, obwohl die speziellen Kombinationen natürlich nie die gleichen sind. Im Herzen jeder Sprache gibt es ein Netzwerk von Reimen, Assonanzen und sich überlappenden Bedeutungen, und jedes Einzelne davon hat die Funktion einer Brücke, die entgegengesetzte und widersprüchliche Aspekte der Welt miteinander verbindet. Sprache also nicht bloß als eine Liste getrennt existierender Dinge, deren Gesamtsumme mit der Welt identisch ist. Sondern eher: Sprache so, wie sie im Wörterbuch angeordnet ist: als ein unendlich komplexer Mechanismus, dessen Elemente – Zellen und Sehnen, Korpuskeln und Knochen, Finger und Flüssigkeiten – allesamt gleichzeitig in der Welt anwesend sind und von denen keines für sich allein existieren kann. Denn jedes Wort ist durch andere Wörter definiert, und das bedeutet, dass, wer sich auf irgendeinen Teil der Sprache einlässt sich mit der ganzen Sprache einlässt. Sprache demnach als eine Monadologie, um einmal den von Leibniz benutzten Ausdruck zu gebrauchen. («Denn da alles voll und somit die gesamte Materie in sich verbunden ist, und da in dem Erfüllten jede Bewegung auf die entfernten Körper im Verhältnis der Entfernung etliche Wirkung ausübt – dergestalt, dass jeder Körper nicht allein von den ihn berührenden erregt wird und gewissermaßen alles, was in ihnen geschieht, selbst verspürt, sondern vermittels derselben auch die Einwirkung derer verspürt, welche an die ihn unmittelbar berührenden anstoßen –, so folgt daraus, dass sich diese Kommunikation auf jede beliebige Entfernung erstreckt. Somit verspürt jeder Körper alles, was in der Welt geschieht, so dass jemand, der alles sieht, in einem jeden Einzelnen lesen könnte, was überall geschieht und sogar, was geschehen ist oder geschehen wird, indem er in dem Gegenwärtigen das nach Zeit und Ort Entfernte bemerkt … Aber eine Seele kann in sich selbst nur das deutlich Vorgestellte lesen; sie kann nicht auf einen Schlag auseinanderlegen, was in ihr zusammengefaltet ist; denn diese Fältelung geht ins Unendliche.»)
    Wenn A. als Schuljunge so mit Worten gespielt hatte, hatte er demnach eigentlich weniger nach der Wahrheit gesucht als vielmehr nach der Welt, wie sie sich in der Sprache zeigt. Sprache ist nicht Wahrheit. Sondern reflektiert unser Dasein in der Welt. Mit Worten spielen bedeutet lediglich, die Funktionsweise des Geistes zu untersuchen, ein Teilchen der Welt so widerzuspiegeln, wie es vom Geist wahrgenommen wird. Und auch hier gilt, die Welt ist nicht die Summe der Dinge, die in ihr existieren. Sie ist ein unendlich komplexes Netzwerk von Beziehungen zwischen den Dingen. Genau wie die Worte erhalten die Dinge eine Bedeutung nur im Verhältnis zueinander. «Zwei Gesichter ähneln sich», schreibt Pascal. «Keins von beiden ist für sich allein komisch, doch sehen wir sie nebeneinander, bringt ihre Ähnlichkeit uns zum Lachen.» Die Gesichter reimen sich für das Auge, so wie zwei Worte sich für das Ohr reimen können. Um diese Überlegung einen Schritt weiter voranzubringen, behauptete A., dass auch die Ereignisse im Leben eines Menschen sich reimen können. Ein junger Mann mietet in Paris ein Zimmer und findet dann heraus, dass sein Vater sich während des Kriegs in eben diesem Zimmer versteckt gehalten hat. Für sich allein betrachtet, wäre über diese beiden Ereignisse wenig auszusagen. Zusammen betrachtet aber bilden sie ein Reimpaar, das beider Realität verändert. So wie zwei physische Gegenstände, wenn sie in unmittelbare Nähe zueinander gebracht werden, elektromagnetische Kräfte abgeben, die nicht nur wechselseitig auf ihre molekulare Struktur, sondern auch auf den Raum zwischen sich einwirken und damit gewissermaßen ihre Umwelt
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