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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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meine Erlebnisse mit dieser Gazelle erzähle, und du findest sie wunderbar, gibst du mir dann ein Drittel vom Blute dieses Kaufmanns?» Erstaunlicherweise geht der Dämon darauf ein, genau wie der König darauf eingegangen ist, sich Schehrezâds Geschichte anzuhören: bereitwillig, ohne Widerworte.
    Beachte: Der alte Mann beabsichtigt nicht, den Kaufmann, wie man es vor Gericht tun würde, mit Argumenten, Gegenargumenten und Beweisführungen zu verteidigen. Damit würde der Blick des Dämons nur auf das gelenkt, was er ohnehin schon sieht: und in dieser Sache steht sein Entschluss bereits fest. Der alte Mann will ihn vielmehr von den Tatsachen ablenken, seine Todesgedanken zerstreuen und ihm damit neue Freude am Leben vermitteln (so, wie das lateinische delectare  = ergötzen wörtlich «weglocken» bedeutet), was ihn dann wiederum von seinem besessenen Wunsch, den Kaufmann zu töten, abbringen wird. Eine Besessenheit von einer Idee ummauert einen in Einsamkeit. Man sieht nur noch seinen eigenen Gedanken. Eine Geschichte jedoch reißt, da sie keine logische Beweisführung darstellt, diese Mauern nieder. Denn sie postuliert die Existenz anderer Menschen und erlaubt dem Zuhörer, Verbindung mit ihnen aufzunehmen – wenn auch nur in seinen Gedanken.
    Der alte Mann beginnt mit seiner grotesken Geschichte. Diese Gazelle hier, sagt er, ist meine Frau. Dreißig Jahre hat sie an meiner Seite gelebt, aber sie konnte mir keinen Sohn gebären. (Wieder eine Anspielung auf das abwesende Kind – das tote Kind, das noch nicht geborene Kind –, was den Dämon auf seinen eigenen Kummer zurückverweist, freilich indirekt, als Teil einer Welt, in der Leben und Tod auf gleicher Stufe stehen.) «So nahm ich mir eine Nebenfrau, von der ich einen Knaben erhielt, lieblich wie der volle Mond, mit Augen und Brauen von vollkommener Schönheit …» Als der Junge fünfzehn war, reiste der alte Mann in eine andere Stadt (auch er ist ein Kaufmann), und in seiner Abwesenheit gebrauchte die eifersüchtige Gattin Zauberkünste, um den Jungen und seine Mutter in ein Kalb und eine Kuh zu verwandeln. «Deine Kebse ist tot, und dein Sohn ist geflohen», tat seine Frau ihm bei der Rückkehr kund. Nach einem Jahr des Trauerns wurde die Kuh – durch die Winkelzüge der eifersüchtigen Frau – zum Opferfest geschlachtet. Als der Mann gleich anschließend auch noch das Kalb schlachten wollte, versagte ihm der Mut. «Als aber jenes Kalb mich sah, zerriss es seine Fessel und lief auf mich zu, rieb seinen Kopf an mir und klagte und weinte, so dass mich Mitleid mit ihm erfasste und ich … sagte: ‹Bringe mir eine Färse und lass dies Kalb laufen!›» Später entdeckte die Tochter des Hirten, die ebenfalls in Magie bewandert war, die wahre Identität des Kalbs. Nachdem der Kaufmann ihr die Erfüllung von zwei Wünschen versprochen hatte («dass du mich mit deinem Sohne vermählest, und dass ich die verzaubern darf, die ihn verzaubert hat, und sie gefangensetzen; sonst bin ich nicht sicher vor ihren Ränken»), verwandelte sie den Sohn in seine ursprüngliche Gestalt zurück. Aber damit ist die Geschichte noch nicht ganz zu Ende. «Die Braut des Sohnes», erzählt der alte Mann weiter, «lebte bei uns Tag und Nacht, Nacht und Tag, bis Allah sie zu sich nahm. Doch als sie entschlafen war, zog mein Sohn aus nach dem Lande Hind, und das ist das Land dieses Mannes, von dem dir widerfuhr, was geschehen ist. Und ich nahm dann diese Gazelle, meine Frau, und wanderte mit ihr von Ort zu Ort, ausschauend nach Kunde von meinem Sohn, bis das Schicksal mich an diesen Ort trieb, wo ich den Kaufmann in Tränen sitzen sah. Das ist meine Geschichte.»
    Einer nach dem anderen schlagen die beiden übrigen alten Männer dem Dämon den gleichen Handel vor und beginnen ihre Erzählungen auf ganz ähnliche Weise. «Diese beiden Hunde sind meine älteren Brüder», sagt der zweite alte Mann. «Diese Mauleselin war meine Frau», sagt der dritte. In diesen einleitenden Sätzen ist bereits der ganze Plan enthalten. Denn was steckt dahinter, wenn man etwas betrachtet, ein reales Objekt in der realen Welt, ein Tier zum Beispiel, und dann behauptet, es sei etwas ganz anderes als das, was es ist? Dahinter steckt die Behauptung, dass jedes Ding ein Doppelleben führt, einmal in der Welt und einmal in unseren Köpfen, und dass, wer eins dieser Leben verleugnet, das Ding in seinen beiden Leben tötet. In den Erzählungen der drei alten Männer stehen einander zwei Spiegel
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