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Die Erfinder des guten Geschmacks

Die Erfinder des guten Geschmacks

Titel: Die Erfinder des guten Geschmacks
Autoren: Jörg Zipprick
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nachzudenken.«
    Köche und Küche unterliegen Moden. Quer durch die Jahrhunderte schlägt das Pendel der Mode in zwei Richtungen aus: Mal wird die Küche komplizierter, visueller, mal wird sie puristischer. So war es seit Jahrhunderten, Exzesse wurden nach einigen Jahrzehnten abgefangen und ausgeglichen.
    Doch es gibt äußere Einflüsse, die das Pendel dauerhaft deregulieren könnten, sodass es nicht wieder in die Ausgangsstellung zurückfährt. Um im Bild zu bleiben: Die »Riesenhand« der Lebensmittelindustrie kann das Pendel ausreißen und auf Köpfen und Mägen der Gäste zerbeulen. Sie kann sich Köche als Kronzeugen für ihre Kreationen kaufen. Nicht nur auf primitive, durchschaubare Art, indem das Porträt des Koches auf eine Verpackung geklebt wird. Sondern auch leise, indem sie industrielle Techniken, Additive, Aromen und Vorgekochtes ins Restaurant einführt. Guides werden es auszeichnen, Restaurantkritiker besingen – und ihre Verleger werden darüber nicht unglücklich sein, denn die Lebensmittelindustrie ist ein potenter Anzeigenkunde.
    Werden Köche in Zukunft also überhaupt noch kochen? Oder werden sie unter brandendem Applaus als künstlerische Superstars das vorgekaute »Franken-Food« anrühren?
    Die Antwort liegt nicht bei den Köchen. Sie liegt beim Gast. Köche mögen sich zu Künstlern und Erfindern verklären, sie bleiben dennoch Unternehmer, und als solche gehorchen sie dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Würden Restaurantgäste Industriemethoden verschmähen, müssten die Köche darauf reagieren.
    Der Feststellung des Institut Paul Bocuse ist nicht vielhinzuzufügen. Schon jetzt dominiert das »Imperium der Nahrungsmittelindustrie« auch die Grande Cuisine: Zusatzstoffe, Labor-Aromen und Vorgekochtes, typische Merkmale industrieller Ernährung, findet man inzwischen nicht nur in der Kantine, sondern auch im Luxuslokal.
    Auf die Widerstandsnester darf trotzdem noch gehofft werden. Denn wie heißt es doch bei Voltaire, dem Kritiker der ersten Nouvelle Cuisine: »Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung. Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion.«
Und morgen?
    »Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.« Dieses geflügelte Wort wird Mark Twain, F. Scott Fitzgerald, Niels Bohr, Winston Churchill und einer nicht näher spezifizierbaren Anzahl von Dichtern, Denkern und Intellektuellen zugeschrieben. Recht haben sie, denn die Welt ist voll von Fehlprognosen.
    »Wer zum Teufel will denn Schauspieler sprechen hören?«, fragte sich Harry M. Warner, Chef von Warner Brothers, im Jahr 1927. »Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren«, behauptete 1901 angeblich Gottlieb Daimler. Schön auch das Zitat von Ron Sommer, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Telekom, aus den Neunzigerjahren: »Das Internet ist eine Spielerei für Computerfreaks, wir sehen darin keine Zukunft.« Und da sind wir noch nicht einmal in Politik und Wirtschaftswissenschaft, wo permanent blühende Landschaften entstehen, die Rentenstets sicher sind und die Währungen grundsätzlich stabil und inflationsresistent ausfallen. Durch derart prominente Vorbilder gewarnt, kann niemand so tun, als wäre die Zukunft der Küche vorhersagbar.
    Es gibt jedoch Menschen, die beträchtliche Energie entwickeln, um unsere Zukunft an ihre Küchenideen anzupassen: Aromenfabrikanten, Hersteller von Convenience Food und Fabrikanten von Zusatzstoffen gehören ebenso dazu wie der Franzose Hervé This, der, wie gesagt, den Begriff »Molekularküche« prägte. »Synthetische Gerichte« aus »puren Komponenten« sollen sich zur cuisine note à note, zur »Notenküche«, vereinen. »Pure Komponenten« sind laut This Glukose, Fruktose, Amylose oder Wasser und Polyphenol. Es handelt sich also um eine »Küche«, die vollkommen ohne Fisch, Fleisch, Geflügel und Gemüse auskommt. Erste Schritte in diese Richtung unternahm der Pariser Koch Pierre Gagnaire mit einem synthetischen Menü, das 2009 in Hongkong serviert und später in der französischen Hauptstadt für 300 Euro pro Kopf reproduziert wurde. Es folgten diverse Demonstrationen und ein Syntho-Food-Cocktail für 500 frisch besternte Köche in der Espace Pierre Cardin nahe den Champs-Élysées. Interessierte Küchenmeister werden mit dem Versprechen auf zügigen Ruhm geködert: »Der Koch, der es wagt, mit der Notenküche das zu tun,
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