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Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Titel: Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
Autoren: Leila Meacham
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Hall gestürmt und hätte von Percy verlangt, ihm zu verraten, was Mary dazu veranlasst hatte, Toliver Farms zu verkaufen, Percy die einhundertsechzig Jahre alte Plantage ihrer Familie zu hinterlassen und ihrer Großnichte zu nehmen, die sie so sehr liebte. Was um Himmels willen hatte sie dazu gebracht, in den letzten Wochen ihres Lebens dieses unsägliche, unwiderrufliche Kodizill zu formulieren?
    Doch als Marys Anwalt konnte er das natürlich nicht. Es blieb ihm keine andere Wahl, als zu schweigen und zu hoffen, dass die Konsequenzen von Marys Entscheidung nicht so einschneidend sein würden, wie er befürchtete. Er wünschte Mary viel Glück für den kommenden Tag, an dem sie ihrer Großnichte ihren Beschluss eröffnen wollte. Ihn würde es nicht wundern, wenn Rachel rosa Rosen für Marys Grab bestellte. Was für ein trauriges Ende dieser besonderen Beziehung zwischen den beiden!
    Kopfschüttelnd und ein wenig angetrunken erhob Amos sich von seinem Stuhl und steckte das Kodizill und den Brief zurück in den Umschlag. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, ihn in den Papierkorb zu werfen, doch dann ging er achselzuckend zum Aktenschrank und heftete Mary DuMonts letzten Willen ab.

DREI
    S chwer auf ihren Gehstock gestützt, blieb Mary auf dem Bürgersteig vor dem Haus, in dem sich Amos’ Kanzlei befand, stehen, um Atem zu schöpfen. Ihr Hals und ihre Augen brannten, und sie hatte das Gefühl, als presste ihr jemand die Lunge zusammen. Das eben war fast zu viel für sie gewesen. Armer, treuer Amos. Sie hatte ihn nicht verdient. Vierzig Jahre … War es wirklich schon so lange her, dass sie, außer sich vor Sorge über das Verschwinden von William, auf der Treppe im Kaufhaus bemerkt hatte, wie der junge Hauptmann der 101. US-Luftlandedivision sie anstarrte?
    Dieser Moment war ihr so lebhaft in Erinnerung, als hätte er sich erst ein paar Monate zuvor ereignet. Gott hatte wohl einen Hang zum Sadismus, dachte sie ein wenig bitter, weil er die Alten mit allerlei subtilen Grausamkeiten schlug. Warum konnten sie die Jahre nicht so wahrnehmen, wie sie wirklich abliefen, statt so, als wären sie in Windeseile vergangen, und der Anfang liege nur kurze Zeit zurück? Ihrer Meinung nach sollte den Alten und Sterbenden das Gefühl erspart bleiben, dass das Leben gerade erst begonnen hatte.
    Wer in der Hölle schmort, sehnt sich eben nach einem Glas Wasser, dachte sie mit einem Achselzucken und richtete ihre Überlegungen wieder auf Amos. Wie undankbar von ihr, ihm eine solche Aufgabe aufzubürden! Aber er war tapfer und gewissenhaft und drückte sich nicht vor seiner beruflichen Pflicht. Andere Familienanwälte würden ein solches Kodizill klammheimlich in den Papierkorb werfen, doch nicht Amos.
Er würde sich Gott sei Dank buchstabengetreu an ihre Anweisungen halten.
    Als sie wieder bei Atem war, setzte sie ihre Sonnenbrille auf und suchte die Straße nach ihrem Chauffeur Henry ab. Sie hatte ihm gesagt, er solle sich während ihres Besuchs bei Amos auf eine Tasse Kaffee ins Courthouse Café setzen, wo er vermutlich mit Ruby, einer Kellnerin seines Alters, flirtete. Warum auch nicht, dachte sie. Zu Hause gab es vor dem Mittagessen noch eine Aufgabe zu erledigen, dann wären ihre Angelegenheiten vollständig geregelt. Ein wenig konnte das allerdings warten, denn sie fühlte sich nun gut genug für einen kleinen Spaziergang, ihren letzten in der Stadt, die ihre Familie mitbegründet hatte.
    Es war lange her, dass sie den Courthouse Circle ganz umrundet, Schaufenster betrachtet und mit den Ladeninhabern geplaudert hatte, die meisten seit Ewigkeiten Freunde von ihr. Inzwischen stand sie nicht mehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit wie früher, als sie Wert darauf gelegt hatte, Kontakt zu halten mit den Menschen, die diese Stadt im Osten von Texas zu dem angenehmen Ort machten, der er war – Geschäftsleute und Angestellte, Kassierer, Sekretärinnen und Beamte der Stadtverwaltung. Sie empfand es als ihre Toliver-Pflicht, sich von Zeit zu Zeit blicken zu lassen. Das war der eine Grund, warum sie sich immer makellos kleidete, wenn sie in die Stadt ging. Dazu kam, dass sie Ollies Andenken ehren wollte.
    Heute hätte sie ihm alle Ehre gemacht, dachte sie mit einem Blick auf ihr Albert-Nipon-Kostüm, die Krokodillederpumps und die Handtasche. Dass sie sich ohne die Perlenkette nackt und verletzlich vorkam, war einzig ihrer Einbildung geschuldet, und außerdem würde ihr ohnehin nicht mehr viel Zeit bleiben, der Kette
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