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Die Erben der Schöpfung

Die Erben der Schöpfung

Titel: Die Erben der Schöpfung
Autoren: Jeffrey Anderson
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stabiler Äste. Von dort aus hatte sie eine hervorragende Sicht auf das untere Blätterdach des Regenwaldes sowie die Ufer des Rio Vicioso, der sich durch den Wald schlängelte, bis er fünfzehn Kilometer weiter in den Amazonas mündete.
    Jamie machte ihre Beobachtungen am liebsten frühmorgens, vor Sonnenaufgang, wenn die Geräuschkulisse des Waldes ihren Höhepunkt erreichte. Nur am frühen Morgen und am späten Abend bekam man die durchdringendsten, ohrenbetäubendsten Schreie der Brüllaffen zu hören oder die unendlich variationsreichen Gesänge von über zehntausend verschiedenen Vogelarten. Dieser Hochsitz inmitten des Geräuschteppichs stellte eine Art Schrein für Jamie dar, und jeder Aufenthalt dort, wo sie in einsamer Ehrfurcht ihre Arbeit verrichtete, war für sie ein religiöses Erlebnis im wörtlichen Sinn.
    Nun fühlte sie sich allerdings eher an die lateinische Liturgie erinnert, die sie als Kind nie verstanden hatte. Ihre Beklommenheit war vor einem Monat erstmals aufgetreten, nachdem eine Überspannung bei einem Gewitter ihre Populationsberechnungen aus zwei Monaten zu nichts verdampft hatte. Eine halbe Flasche Tequila später begann sie zu philosophieren und kam über sich selbst ins Staunen, als ihr angeheitertes Alter Ego sie fragte, was sie eigentlich dort zu suchen habe.
    Wieder nüchtern, hatte ihr Verstand am nächsten Morgen keinerlei Antworten zu bieten, und sie versank in einer zähen, quälenden Infragestellung ihrer Forschungsarbeit, ihres Ehrgeizes und alles anderen, das sie veranlasst hatte, ihre erstklassigen wissenschaftlichen Qualifikationen als Populationsbiologin hinter sich zu lassen und jahrelang Käfer und Motten zu zählen.
    Was als die kühnste, umfangreichste Studie in Populationsdynamik begonnen hatte, war langweilig geworden, ja geradezu banal. Für eine Mathematikerin war banal zu sein die schwerste Sünde. Seit ihrem Studium hatte sie ihr Leben auf einer unerschütterlichen Prämisse aufgebaut: Sie würde eine große Entdeckung machen – mit einer wirklich originellen Idee, die ihr einen Namen als Wissenschaftlerin sichern würde.
    Und nun bekam sie Paulo nicht aus ihren Gedanken. Was er wohl dachte? Wahrscheinlich hielt er sie für völlig vertrottelt. Ich hab immer noch das tolle Bananendessert auf der Zunge…
    An Arbeit war in diesem Zustand nicht zu denken. Sie lehnte ihren Rucksack an den Baum und marschierte mit schnellem Schritt in den Urwald. Sie brauchte Bewegung. Ihre Füße hüpften über den Humus, die Ansammlung dunklen, verrottenden Biomaterials, das den Boden des Regenwalds bedeckte. Immer wieder musste sie Haken um Bäume herum schlagen und ihre Muskeln zu mehr Leistung antreiben.
    Am Rio Vicioso angelangt, wandte sie sich flussabwärts und joggte den Trampelpfad am Ufer entlang. Sie vergaß ihre Ängste und ihre Forschung und konzentrierte sich nur noch auf ihren Atemrhythmus und das angenehme Gefühl in den Füßen. Viel zu lange war sie nicht gelaufen. Nachdem sie sich in der Kneipenszene von New Haven als Totalausfall erwiesen hatte, hatte sie während des Studiums mit Hindernisrennen begonnen, einer Disziplin, bei der sie sich etwas besser schlug. Doch auch das lag Jahre zurück. Seit sie in Brasilien war, wurden die Abstände zwischen den Trainingseinheiten immer größer, bis ihre Hauptaktivität nur noch darin bestand, Moskitos zu erschlagen.
    Sie joggte parallel zu den Stromschnellen den Fluss entlang. Beim Sprung über eine herabgefallene Liane passierte sie einen im Fluss liegenden Felsen, an dem sich das Wasser brach und einen kühlen Nebel in die feuchte Luft versprühte. Geduckt durchlief sie die willkommene Dusche, während die unregelmäßigen Wellengipfel den lebhaften Herzschlag des Flusses illustrierten. Jamie hüpfte über die Wurzel eines großen Baums, dann über den umgestürzten Stamm eines zweiten. Noch anderthalb Kilometer. Sie zwang sich, ihr Tempo beizubehalten, während sie die Frustration herausschwitzte.
    Ohne an ihr Ziel zu denken, lief sie weiter und ignorierte den zunehmenden Schmerz in den Beinen, bis sie über einen hervorstehenden Stein stolperte und in den lehmbraunen Fluss stürzte. Sie schnappte nach Luft und hechtete nach einer Mangrovenwurzel, an der sie sich an Land ziehen konnte. Wie eine erschöpfte Pilgerin lag sie nun bäuchlings auf dem Boden, schnappte nach Luft und kostete trunken von Endorphinen den Schmerz aus.
    Sie spuckte den Schlamm aus und stützte sich, immer noch keuchend, auf die Ellbogen, bis
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