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Die Entstehung des Doktor Faustus

Die Entstehung des Doktor Faustus

Titel: Die Entstehung des Doktor Faustus
Autoren: Thomas Mann
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Niederschrift der »oratio« mich auch nicht. Ernst Wiechert, ein Prominenter der »Inneren Emigration«, sprach damals öffentlich von »diesem hoffnungslosen Volk«, und wenn nicht ganz klar war, ob er damit ein Volk meinte, dem man keine Hoffnung lasse, oder ein Volk, auf das zu hoffen unmöglich sei, so wurde die Frage einigermaßen geklärt durch den Zusatz: wenn heute Hitler wiederkäme, würden 60 bis 80% der Deutschen ihn mit offenen Armen empfangen. Daß dabei zwei Hoffnungslosigkeiten sich begegnen, nämlich die deutsche und die unserer Okkupationspolitik, blieb unausgesprochen. Wiechert aber ist seither zur »Äußeren Emigration« übergegangen und hat seinen Wohnsitz in der Schweiz genommen, – aus akutem Unwillen darüber, daß man {580} rücksichtslos genug war, ihm »displaced persons« auf seinen Hof zu setzen.
    Drückende Föhnsonne herrschte in den Januartagen, an deren einem ich, die lange Reihe der bezifferten Kapitel abschließend, der oberbayerischen Bäuerin, auch einem Stück erlebter Menschlichkeit, das letzte Wort ließ und meine Vorbereitungen zur »Nachschrift« begann. Sie beanspruchte acht Tage. Am 29. Januar vormittags schrieb ich die letzten Zeilen des
Doktor Faustus
, wie ich sie längst im Sinn getragen: Zeitbloms stilles Stoßgebet für Freund und Vaterland – und blickte über die drei Jahre und acht Monate, in denen ich unter der Spannung dieses Werkes gestanden, zurück zu dem Maimorgen mitten im Kriege, an dem ich die Feder dazu angesetzt: »Ich bin fertig«, sagte ich meiner Frau, als sie mich von dem gewohnten Spaziergang gegen den Ozean hinab mit dem Wagen abholte; und sie, die schon so manches Fertigwerden in Treuen abgewartet und mit mir begangen hatte, – wie herzlich beglückwünschte sie mich! »Mit Grund?« fragt das Tagebuch. Und es fügt hinzu: »Ich anerkenne die moralische Leistung.«
    In Wahrheit hatte ich nicht das Gefühl, fertig zu sein, nur weil das Wort »Ende« geschrieben war. »Sinnende und bessernde Beschäftigung mit dem Manuskript« heißt es noch manchen Tag. Ich tilgte Einzelheiten der Nachschrift, die man beim Vorlesen allzu bedrückend gefunden, kam bastelnd auf die Violinsonate, die Kammermusik zurück, setzte das Dante-Motto und hielt eine Weile für ratsam, der schweren Kapitelmasse durch die Einteilung in sechs »Bücher« eine klarere Form zu geben. Das war schon ausgeführt, als ich doch den Plan wieder fallen ließ. Eine Woche verging noch, die erste des Februar, bis ich das Buch für »endgültig abgelegt« erklärte und nicht mehr Hand daran zu legen beschloß. Wir verbrachten den Abend bei Alfred Neumanns und stießen an mit Cham {581} pagner auf die Beendigung eines Werkes, an dessen Plan der gute Freund so aufhorchenden Anteil genommen. Ich las nach dem Kaffee die Echo-Kapitel zu großer Rührung. Kitty hatte, so hörten wir nächsten Tages, die Nacht nicht schlafen können und nur an das Kind immer denken müssen.
    Zu besorgen war jetzt der Nietzsche-Vortrag für die Fahrt nach dem Osten und nach Europa, für die wir bereits die ersten Vorbereitungen trafen. Das essayistische Nachspiel zum
Faustus
nahm ungefähr vier Wochen in Anspruch und war, mit seinen vierzig Manuskriptblättern, für den mündlichen Vortrag, den englischen wie den deutschen, um zwanzig Seiten zu lang. Erika leistete ein Meisterstück, literarischer Regie, indem sie den Aufsatz, eben fürs Mündliche, durch hundert Aussparungen im einzelnen und unter Bewahrung des Wesentlichen, genau um die Hälfte kürzte. Ein Artikel zu Hermann Hesses 70. Geburtstag beschäftigte mich zusammen mit der Redaktion der englischen Fassung des Nietzsche-Vortrags während der letzten Wochen vor unserer Abreise. Am 22. April brachen wir nach dem Osten auf und schifften uns am 11. Mai auf der »Queen Elizabeth« ein. Ich sprach in London. Eines Juni-Vormittags – und es war wie ein Traum – saß ich auf der Bühne des Zürcher Schauspielhauses, wo ich mich vor acht Jahren mit einer Vorlesung aus
Lotte in Weimar
verabschiedet hatte, und führte, glücklich belebt von dem Wiedersehen mit der trauten Stadt, einem dies Wiedersehen freundlich mitbegehenden Publikum Fitelbergs Riccaut-Szene auf. Wir verbrachten einige Wochen dieses sonnenstarken Sommers in Flims, Graubünden, und dort las ich die täglich aus der Druckerei von Winterthur einströmenden Korrekturen des
Doktor Faustus.
Der Roman seiner Entstehung war beendet. Derjenige seines Erdenlebens begann.

[Nachspann]

Editorische
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