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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung
Autoren: Lisa J. Smith
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betrogen – hat uns daran gehindert, ihr Fleisch zu kosten –, aber jetzt gehört sie uns«, sagte die eisige, melodische Stimme.
    Und dann geschah alles blitzschnell. Ein dunkler Nebel schloss sich um Jenny und trennte sie von Dee und Tom. Der Nebel war wie eine große, kalte Hand, die ihren Körper berührte. Eisiger Wind heulte in ihren Ohren. Sie wurde weggezerrt, genauso wie ihr Großvater in den Schrank gezerrt worden war.

Jenny konnte nicht sagen, was als Nächstes geschah. Vielleicht war es ein Ausruf – vielleicht von Tom. Aber es war nicht direkt ein Wort, es war mehr eine Energiewelle. Eine Energiewelle voller Ablehnung, Widerstand. Nein! Nein!
    Stopp.
    Der Nebel lichtete sich. Jennys Sicht wurde klarer. Sie keuchte und erkannte, dass sie sich einem der Höhleneingänge genähert hatte. Tom und Dee schüttelten den Kopf und wischten sich über das Gesicht, als müssten sie Nebelschwaden vertreiben. Sie keuchten ebenfalls. Alle schienen der Hysterie nahe. Aber der Ausruf war von Julian gekommen.
    Er stand jetzt mitten im Raum. Jenny spürte verzweifelte Hoffnung in sich aufsteigen – vielleicht gab es doch etwas, das er tun konnte. Aber im nächsten Moment brach die Hoffnung in sich zusammen.
    »Du kennst das Gesetz. Das Gesetz kann nicht geändert werden«, wiederholte der hochgewachsene Schattenmann tonlos.
    Und Julian senkte den Blick.
    Sie spielen mit uns, begriff Jenny langsam. Auch mit
Julian; sie sehen uns alle gern leiden. Sie haben nicht etwa innegehalten, weil er etwas gerufen hat – sie haben innegehalten, damit sie das Spiel noch ein Weilchen in die Länge ziehen können.
    Da ergriff ein anderer Schattenmann das Wort. Dieser hatte leberfarbene Haut, mit Flecken hier und da, als sei er von Säure verbrannt worden. Das Weiß in einem seiner Augen war überhaupt kein Weiß, es war rot wie ein Rubin, rot wie Blut.
    »Nichts kann uns daran hindern, sie zu holen – es sei denn, ein anderer ist bereit, ihren Platz einzunehmen.«
    Jennys Herz hämmerte wild. Für einen Moment konnte sie keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Dann erinnerte sie sich – ihr Großvater. Zu ihm hatten sie genau das Gleiche gesagt. Ein Leben für ein Leben. Jemand muss ihren Platz einnehmen. Ihr Großvater hatte es getan – Jenny hatte ihn gerettet und die Vereinbarung gebrochen – und jetzt fing alles wieder von vorn an.
    Schreckliches Schweigen erfüllte den Raum.
    Dann hörte sie eine Stimme, ruhig und fest und menschlich.
    »Ich werde gehen.«
    Tom war vorgetreten. Er lächelte. Es war, als böte er an, Pizza für die Baseballmannschaft zu holen.
    Er war wunderbar. Irgendwie schaffte er es, selbst in seinen zerknitterten, von Frost überhauchten Kleidern
gut auszusehen. Er stand lässig da, ohne eine Spur von Furcht in seiner Miene.
    Jenny war erfüllt von Stolz. Einem leidenschaftlichen Stolz, dass ein Mensch, ein siebzehnjähriger Junge, der bis vor einem Monat noch nicht einmal etwas von den Schattenmännern gehört hatte, sich ihnen derart entgegenstellte. Dass er sein Entsetzen verbergen konnte und lächelnd anbot zu sterben.
    Genauso will ich sterben, dachte Jenny, und eine seltsame Gelassenheit überkam sie. Ich will es gut machen – da es nun mal unausweichlich ist. Und ich hoffe, ich habe den Mut dazu.
    Denn natürlich würden sie Tom nicht nehmen. Das würde sie niemals zulassen.
    Doch bevor sie das aussprechen konnte, hörte sie ein kurzes, wildes Lachen – und Dee stand neben Tom. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen, und ihre Augen blitzten wie die eines Jaguars. Sie war so schön wie eine Göttin der Nacht – eine Krieger göttin, die sich gerade erhoben hatte, um ihr Volk zu verteidigen. Und sie grinste, ihr typisches, barbarisches Grinsen, das in seltsamem Kontrast zu ihren zarten Zügen stand. Das Grinsen, das Jenny nicht mehr gesehen hatte, seit Audrey verletzt worden war.
    »Nein«, sagte Dee zu Tom. »Du wirst nicht gehen.« Ihr Atem ging sehr schnell, und sie lachte – beinah überschwänglich. »Jenny braucht dich, du Trottel. Sie würde dir niemals erlauben, das zu tun. Ich werde gehen.«

    »Verzieh dich, Dee«, murmelte Tom leise. Seine Augen blickten seltsam friedlich, geradezu träumerisch, aber in seiner Stimme lag etwas Beängstigendes. Zu jedem anderen Zeitpunkt, dachte Jenny, hätte Dee sich zurückgezogen.
    Aber jetzt lachte sie nur. Dabei wirkte sie ganz wie sie selbst – verwegen, kriegerisch, bedingungslos treu – und sah zugleich nach mehr aus. Nach einer
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