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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung
Autoren: Lisa J. Smith
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sei. Sie repräsentiert Zwielicht und Morgengrauen, also Zeiten, in denen sich die Dinge verändern. Die Rune wirkt zwischen Licht und Dunkelheit.«
    Morgengrauen. Jenny dachte an das unglaublich strahlende Blau jener Morgendämmerung, während der sie einmal zufällig erwacht war – und an Augen, die genau diese Farbe hatten. Julian ist wie Dagaz, dachte sie. Ein Katalysator, der zwischen Licht und Dunkelheit wirkt. Mit einem Fuß in beiden Welten.
    »Die nächste Rune ist Thurisaz, der Dorn. Sie kommt
nach rechts – nein, ein kleines Stück weiter nach unten. Sie ist geformt wie – sieh dir das an. Eine gerade Linie mit einem an der Seite angehängten Dreieck. Wie ein Dorn, der aus einem Stiel ragt.«
    »Es gibt eine Menge Märchen über Dornen«, sagte Audrey mit grimmiger Miene. »Man wird von einem Dorn, einer Spindel oder einer Nadel gestochen, und dann stirbt man, oder man wird blind oder schläft für immer.«
    Ohne ein Wort zeichnete Jenny die Rune.
    »Die Nächste ist Gebo. Sie steht für vieles: ein Geschenk, Opfer, Tod. Die Aufgabe des Geistes. Sie ist geformt wie ein X, seht ihr?«
    Opfer. Tod. Ein seltsamer Schauder überlief Jenny. Sie starrte auf das Buch. Es war ein glattes, gerades X, nicht wie das schräge X der Rune Nauthiz, die ihr Großvater auf den Schrank gemeißelt hatte, um die Schattenmänner wegzusperren.
    Jenny zeichnete das X. Aber das seltsame Gefühl ließ sie nicht mehr los. Es war ein schlechtes Gefühl – und es hing irgendwie mit Gebo zusammen. Gebo, die Rune des Opfers. Irgendetwas würde geschehen …
    Nicht jetzt. Aber in der Zukunft. Michaels Stimme schreckte sie auf. »Als Nächstes kommt Isa, eine Rune, die für das Ureis steht. Es ist eine gerade Linie, nach oben und unten.«
    Jenny verdrängte den Gedanken an die Opferrune und zwang sich weiterzuzeichnen.

    »Kenaz, die Fackel. Sie steht für die Macht des Urfeuers, und sie ist geformt wie ein Winkel, sieh her …«
    »Raidho, für Bewegung, Reisen in Zeit und Raum. Sie ist geformt wie ein R  …«
    »Uruz, zum Durchdringen des Schleiers zwischen den Welten. Sie ist geformt wie ein auf dem Kopf stehendes U  …«
    »Ich weiß, Michael.« Uruz war die Rune im Deckel der Spieleschachtel, die Julian ihr verkauft hatte. »Sie soll aussehen wie zwei nach unten zeigende Hörner, bereit, den Schleier zu durchstoßen«, sagte Jenny. »Ist das die letzte?«
    »Ja. Und jetzt ritzen wir sie in die Tür.«
    Das war gar nicht so schwer, wie Jenny erwartet hatte. Die Tür war zwar aus massivem Holz, aber die Runen hatten keine runden Formen, die schwieriger zu schnitzen gewesen wären, sondern bestanden aus geraden Linien und Winkeln. Trotzdem klemmte Toms scharfes Armeemesser ab und zu oder glitt ab. Jenny musste vorsichtig sein.
    Und sie machte sich Gedanken über das Blut. Sie hatte Angst vor Rasierklingen, aber eine Nadel kam nicht infrage. Wenn sie alle diese Runen beflecken wollten, würden sie erheblich mehr Blut brauchen, als man aus einem Nadelstich quetschen konnte.
    Denk jetzt nicht darüber nach. Wenn es so weit ist, wirst du einfach das Messer benutzen müssen – und hoffen,
dass du dir nicht den Finger abschneidest, überlegte sie.
    Genau in diesem Moment löste das Problem sich von selbst. Das Messer rutschte ab.
    »Oh Gott!«
    Jenny spürte etwas, aber es ging so schnell, dass es kaum wehtat. Sie ließ das Messer fallen und starrte mit weit aufgerissenen Augen ihre Hand an.
    Ein Schnitt von eineinhalb Zentimetern prangte quer über ihrem Daumen. Die Ränder der Wunde zeichneten sich weiß ab, bevor das hervorquellende, leuchtende Rot sie verwischte. Blut lief über ihren Daumen.
    Es war halb so schlimm, aber Jenny wurde trotzdem übel.
    »Schnell, benutz es«, rief Michael. »Verschwende nichts davon – das Zeug ist kostbar.«
    Der Schnitt begann zu brennen. Jenny sah sich nach etwas um, das sie als Stift benutzen konnte. Dann sammelte sie das Blut auf dem Nagel ihres Zeigefingers und begann, die bereits geschnitzten Runen nachzuzeichnen. Das Blut färbte die hellen Rillen im Holz leuchtend rot, wie der Rotstift eines Lehrers.
    Audrey und Dee schnitzten die restlichen Runen, und Jenny blieb bei ihrer blutigen Aufgabe.
    Das Ergebnis ihrer Bemühungen war zwar nicht ganz professionell, aber dennoch beeindruckend. Zwei konzentrische Kreise, dazwischen die Runen. Während
Jenny das Schnitzwerk betrachtete, fragte sie sich zum ersten Mal, was wohl ein Nachbar denken würde, wenn er sie bei dieser Arbeit sehen
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